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Samstag, 30. Dezember 2023

Dampfschiffe


Wo Werra sich und Fulda küssen
Sie ihre Namen büßen müssen,
Und hier entsteht durch diesen Kuss
Deutsch bis zum Meer der Weser Fluss
.

Steht auf dem Weserstein in Hannoversch Münden, weiß jedes Kind. Hannoversch Münden (damals noch einfach Münden) steht hier heute im Mittelpunkt des Interesses, weil da die Barbaren von der Mündener Schiffergilde vor 313 Jahren eine bahnbrechende Erfindung kaputt gemacht haben: das erste Dampfschiff in Deutschland.

Nun sind wir in meinem Heimatort Vegesack immer bannig stolz darauf gewesen, dass das erste Dampfschiff Deutschlands 1817 bei uns gebaut wurde. Hieß passenderweise Weser und wurde auf der Langeschen Werft, gleich neben dem Vegesacker Hafen gebaut. Zuerst hatte man sich ja in England umgeguckt, um ein Dampfschiff zu kaufen, hatte aber nichts Richtiges finden können. Also baut man es jetzt selbst. Schiffe bauen, das kann Johann Lange schon, aber ein Dampfschiff, das hat er noch nie gebaut. Das können nur die Engländer. Na ja, das konnte offensichtlich auch der Mann im Jahre 1707, von dem gleich noch die Rede sein wird, den man aber völlig vergessen hatte.

Hinter dem ganzen Projekt steckt ein junger Ingenieur aus Bremen, der Ludwig Georg Treviranus heißt und der eine Art Daniel Düsentrieb ist. Der kommt aus einer berühmten Bremer Familie, seine beiden Brüder sind geachtete Naturwissenschaftler. Ludwig Georg interessiert sich für das Linsenschleifen und für Fernrohre. Wenn Sie diesen Blog lesen, dann wissen Sie natürlich, dass Lilienthal bei Bremen jetzt das Zentrum der deutschen Astronomie ist. Und so landet unser Ludwig Georg Treviranus folgerichtig durch die Vermittlung von Dr Heinrich Wilhelm Olbers eines Tages bei dem berühmten Sir William Herschel in England. Aber da verliert er plötzlich das Interesse am Linsenschleifen und interessiert sich nur noch für Dampfmaschinen. Was das ist, wissen wir dank der unsterblichen Definition vom Lehrer Bommel in der FeuerzangenbowleWat is en Dampfmaschin? Da stelle mer uns janz dumm und da sage mer so: En Dampfmaschin dat is ene jroße schwarze Raum. Der hat hinten un vorn e Loch. Dat eine Loch dat is de Feuerung. Und dat andere Loch dat krieje mer später

In Amerika hat Robert Fulton gezeigt, dass man mit Dampfschiffen auf dem Hudson von New York nach Albany fahren kann, so etwas möchte man jetzt zehn Jahre später auch in Bremen haben. Der Bremer Reeder Friedrich Schröder ist glücklich, dass er den jungen Treviranus gefunden hat, der jetzt beim Bau der Weser hilft. Die Maschine hat man bei Boulton & Watt in England gekauft, Treviranus war vorher bei der Firma von James Watt in Soho gewesen, um die Maschine genau zu studieren. Er ist dann auch auf den ersten Testfahrten an Bord der Weser gewesen, weil niemand diesen neuen Antrieb so verstand wie er. Eine der ersten Testfahrten der Weser führte nach Münden. Da wo Werra sich und Fulda küssen. Treviranus natürlich als Mechaniker und Chefingenieur an Bord. 

Der schreibt auch 1817 eine Woche vor der Jungfernfahrt an die Bremer ZeitungZur Sicherung gegen alle Gefahr [...] dient die auf dem Kessel befindliche Sicherheitsklappe (safety valve) und der in Grade abgetheilte Dampfmesser (steam gauge). [...] Bei unserem hiesigen Dampfboot ist die höchste Expansivkraft, welche die Dämpfe erhalten können, nicht größer, als daß jeder Quadrat-Zoll des Kessels nur durch eine Kraft von ungefähr 3,5 Pfund gedrückt wird, indem bei diesem Druck sich das Ventil zu öffnen beginnt. Daß diese Kraft niemals im Stande sein wird, einen, aus dicken Platten vom besten, geschmiedeten Eisen zusammengesetzten, mit starken Nietnägeln verbundenen Kessel auseinander zu treiben, wird Jedem einleuchten. Es ist auch wirklich meines Wissens noch kein Beispiel vorhanden, daß der Kessel einer, nach dem Prinzip der Herren Boulton und Watt wirkenden Dampfmaschine zersprungen wäre.

Und da hat er Recht gehabt, die Sache funktioniert. Wenn es mit der Personenbeförderung auch nicht ganz so funktioniert, wie der Reeder Friedrich Schröder sich das vorstellt. Aber das liegt daran, dass die Weser versandet, nicht an der Erfindungskraft von Treviranus oder an Mängeln der Maschine von Boulton & Watt. Der Schotte James Watt hat die Dampfmaschine zwar nicht erfunden, aber er hat sie entscheidend verbessert. Derjenige, der das vielleicht alles erfunden hat, ist ein Franzose namens Denis Papin, dem die Angehörigen der Schiffergilde aus Münster sein kleines Dampfboot kaputt machen, weil sie die Konkurrenz fürchten. Alles Erworbene bedroht die Maschine.

Wenn Sie einen Fissler Vitavit in der Küche haben, wird Ihnen der Schnellkochtopf nicht um die Ohren fliegen, weil er ein Überdruckventil hat. Denis Papin ist seine Erfindung explodiert, als er seinen Dampfkochtopf voller Stolz der Royal Society vorführen wollte. Aber dann hat der aus Frankreich vertriebene Hugenotte noch schnell das Überdruckventil dazu erfunden. Und die Dampfmaschine, das U-Boot und den Schaufelraddampfer. Er ist mit seinem Erfindungen nicht reich geworden, ist in bitterer Armut in London gestorben. Falls es Sie im Urlaub mal auf einen Ausflugsdampfer auf der schönen Oberweser verschlägt, dann denken Sie doch mal einen Augenblick an Denis Papin

Das stand hier schon vor dreizehn Jahren, als ich anfing, das Internet vollzuschreiben. Ich stelle es heute noch einmal hier ein, weil am 30. Dezember 1816 der Stapellauf des ersten deutschen Dampfschiffs stattfand, das von einem Deutschen gebaut wurde. Das zweimal deutsch hintereinander in dem Satz ist wichtig, weil es gleichzeitig ein zweites Dampfschiff in Deutschland gibt. 

Das heißt Prinzessin Charlotte von Preußen und schwimmt auf Havel und Spree. Gebaut wurde es von keinem Deutschen, sondern von dem  schottischen Ingenieur John B. Humphreys Jr. Sieben Jahre nach der Jungfernfahrt wurde die Prinzessin Charlotte von Preußen verkauft und abgewrackt. Die Weser fuhr da immer noch auf der Weser. Und bekam zur Zweihundertjahrfeier 2016 eine Briefmarke. Und 2010 hier einen Post.

1816 ist das Jahr der Dampfschiffe auf den deutschen Flüssen. Im Hamburger Hafen macht im Juni die englische Lady of the Lake fest, sie soll Passagiere ins neugegründete Seebad Cuxhaven bringen. Und auch im Juni 1816 fährt die englische Defiance den Rhein hoch. Will nach Frankfurt, aber kommt da nicht an. Die deutschen Flüsse sind noch nicht für die Dampfschiffe geeignet. Doch schon ein  Jahrzehnt später gibt es einen regelmäßigen Schiffsverkehr zwischen Mainz und Köln. Die Schiffe sind voll mit englischen Touristen, denn in England hat Thomas Cook die Pauschalreise erfunden. Im Jahr 1843 sind eine Million Engländer auf dem Rhein gewesen. Sie reisen gern, die Briten, zuerst im 18. Jahrhundert mit ihrer Grand Tour, die der Oberklasse vorbehalten war. Jetzt kommen alle anderen, der Massentourismus ist erfunden. Lesen Sie mehr in dem Post Drachenfels.

Sonntag, 10. Dezember 2023

Sansibar


Ich fange heute mal so an. Wenn Sie das hier sehen, dann lesen Sie bestimmt weiter. Wenn ich mit der Weltpolitik anfange, lesen Sie vielleicht nicht weiter. Dies ist ein Photo aus dem Film ✺Blonde Fracht für Sansibar, der im Original Mozambique hieß. Hildegard Knef spielt da mit. Der kleine Schnipsel da oben und Vivi Bach im Bikini könnten ja ausreichen. Aber ich habe hier für Sie auch das englische Original in ganzer Länge. Und ganz in englischer Sprache. Interessant ist, dass Steve Chochran da mitspielt. Der hat hier mit seiner Rolle in Antonionis Film Il Grido einen langen Post. Und diesen Film schreibt Alfred Andersch in seinen Roman Die Rote hinein. Es ist derselbe Andersch, der Sansibar oder der letzte Grund geschrieben hat. Und da bin ich wieder beim Thema Sansibar.

Heute vor sechzig Jahren erlangte das britische Protektorat Sansibar die Unabhängigkeit. Seit 1890 war die Insel unter der Herrschaft der Engländer gewesen. Weil die damals den sogenannten Sansibar-Helgoland-Vertrag unterschrieben hatten, der uns unter anderem die Insel Helgoland bescherte. Der deutsche Kaiser ließ es sich nicht nehmen, im August 1890 den neuen Teil seines Reiches, der seit 1807 eine britische Kronkolonie gewesen war, mit einer kleinen Flotte zu besuchen. Zehn Jahre später sah Helgoland so aus. Die Straße, die wir hier sehen, hieß natürlich Kaiserstraße. Heute heißt die nicht mehr so, heute heißt die Straße Lung Wai.

Der Sansibar-Helgoland-Vertrag kommt schon mehrfach in diesem Blog vor. Ich zitiere mal eben einen Absatz aus dem Post Kurgäste: Helgoland kommt erst 1890 zu Deutschland. Durch einen Vertrag, der im Volksmund der Helgoland-Sansibar Vertrag heißt. Bismarck, der seinen Nachfolger Leo von Caprivi nicht ausstehen konnte, hat das Gerücht in die Welt gesetzt, dass die Deutschen Helgoland gegen Sansibar getauscht hätten. Ganz so war es nun doch nicht. Aber die Vorstellung, dass es eines Tages statt Butterfahrten nach Helgoland Butterfahrten nach Sansibar gegeben hätte, ist schon komisch. Zu Sansibar haben wir ja immer irgendwelche Beziehungen gehabt. Der Bremer Afrikaforscher Gerhard Rohlfs ist da mal kurz und glücklos Generalkonsul gewesen. Alfred Andersch hat einen Roman namens Sansibar oder der letzte Grund geschrieben, da ist Sansibar ein utopischer Ort, die Hoffnung auf eine bessere Welt ohne die Nazis. Wozu bin ich in der Welt, wenn ich nicht Sansibar zu sehen bekomme, steht bei Andersch.

Das alles könnte ich natürlich etwas genauer sagen, und da fange ich mal eben mit dem Mann aus Vegesack an, der Sansibar zu sehen bekommen hat. Über den ich schon einmal gesagt habe: Warum schreibt nicht endlich einmal jemand ein wirklich gutes Buch über Gerhard Rohlfs? Seit ich an einer Schule, die seinen Namen trägt, Abitur gemacht habe, verfolgt mich der Kerl. Ich habe alles gelesen, was über ihn erschienen ist, aber bis auf einen schmalen Band eines DDR Autoren namens Wolfgang Genschorek aus dem Jahre 1982 kann man das alles vergessen. 

Gut, damals kannte ich das Buch Gerhard Rohlfs: Anmerkungen zu einem bewegten Leben von Günter Bolte noch nicht, das 2019 erschien. Bolte ist ein Amateurhistoriker, der im Heimatmuseum Schönebecker Schloss ehrenamtlich die Gerhard Rohlfs Sammlung betreut und sich durch fünftausend Briefe des Afrikaforschers gelesen hat. Er macht da weiter, wo vor hundert Jahren der Studienrat Alwin Belger angefangen hat. Belger war ein Kollege meines Opas und der Lieblingslehrer meiner Mutter (aber keineswegs der Lieblingslehrer von Ruth Rupp), er ist 1945 bei einem englischen Fliegerangriff neben dem Hotel Bellevue umgekommen. Boltes Buch ist eher ein Forschungsbericht als eine in sich geschlossene Biographie, aber es zeigt in vielen Details auf, dass man Gerhard Rohlfs Schilderungen seines eigenen Lebens keinen Augenblick vertrauen darf.

Doch dass er bei seinem kurzen Aufenthalt als Konsul von Sansibar dem Sultan den Sklavenhandel verbieten wollte, das stimmt wohl. In Berlin mag man diesen Quereinsteiger in Politik und Diplomatie überhauot nicht: Nicht von Haus aus Beamter und von daher mit jenem allen amtlichen Organisationsstrukturen gemäßen Schematismus nicht vertraut, der auch seiner Aufgabe zugrunde lag, nicht dazu zu bewegen, sich den Gepflogenheiten seines - und ebenso des Auswärtigen-Amtes anzupassen, etwa die regelmäßige Berichterstattung strikt einzuhalten, kein geschulter Diplomat und damit innerhalb des exklusiven Diplomatischen Dienstes ein Fremdkörper.

Gerhard Rohlfs ist für mich so etwas wie ein entfernter Verwandter. Ich bin auf einer Gerhard Rohlfs Schule gewesen, da gab es schon in der ersten Klasse in der Aula einen Vortrag über den berühmten Sohn der Stadt. Zu Beginn der Oberstufe gab es einen zweiten Vortrag. Der erste Vortrag war ein wenig auf dem abenteuerlichen Karl May Niveau für Kiddies, der zweite betonte die wissenschaftliche Leistung des Abenteurers. Über die Auswirkungen des Kolonialismus, über den Joseph Conrad Heart of Darkness und Mark Twain King Leopold's Soliloquy geschrieben hat, wurde nie geredet. 

Unser Heimatmuseum, in das mich mein Opa jeden Sonntagmorgen schleppte, wenn er als pensionierter Lehrer den Dienst an der Kasse übernommen hatte, war voll von Gerhard Rohlfs Reliquien. Und seiner gesamten Korrespondenz von 5.000 Briefen. Das Bild hier zeigt das heutige Gerhard Rohlfs Zimmer im neuen Heimatmuseum Schloss Schönebeck. Das Haus, in dem früher das Heimatmuseum war, hatte man an die Freimauer zuückgeben müssen. Aber Gerhard Rohlfs war kein Held meiner Jugend, je mehr ich über ihn las, desto fremder wurde er mir. Irgendwie hat er mehr von Karl May an sich als von Richard Francis Burton

Der Mann, der durch die Sahara gewandert war, ist eine Berühmtheit geworden. Bismarck glaubte, dass er ihn für seine Machtpolitik gebrauchen könnte. Aber als Konsul von Sansibar geriet Rohlfs zwischen alle Fronten, vor allem, weil er mit dem englischen Konsul befreundet war, den er als Kollegen kannte. Und dann war da noch die Sache mit der Prinzessin aus Sansibar. Die hieß Sayyida Salme bint Said, in ihren Memoiren sagt sie uns, dass sie Prinzessin von Sansibar und Oman ist. Sie wurde nicht die Herrscherin von Sansibar, und die ihr zustehenden 350.000 Goldmark des väterlichen Erbes hat sie auch nicht bekommen. Obgleich sich Gerhard Rohlfs immer für sie eingesetzt hat. Dahinter steht eine abenteuerliche Geschichte, die aber heute nicht erzählt wird. Weil die schon seit 2010 in diesem Blog steht. Hat schon mehr als fünftausend Leser, kann aber ruhig noch mehr haben. Klicken Sie mal den Post Emily Ruete an. Bewegte Bilder habe ich auch, Sie können hier den Film Die Prinzessin von Sansibar sehen.

Lesen Sie auch: Afrika

 

Freitag, 8. Dezember 2023

die örtlichen Buchhändler


Martin Mader, seit dreißig Jahren der Inhaber der Buchhandlung Otto und Sohn in der Breiten Straße in meinem Heimatort Vegesack, hat ein Gespenst im Laden. Es heißt Booky und ist das weltweit einzige Buchgespenst. Sie können es hier auf YouTube sehen. Booky soll Kinder zum Lesen bringen, und das mit den vier Booky und Martin Filmchen ist natürlich geschickt gemacht: ein Anreiz zum Lesen für Kinder und eine Werbung für die über neunzig Jahre alte Buchhandlung. 


Es muss etwas geschehen, fast jeder fünfte Viertklässler kann nicht lesen. Fast jedes dritte Bremer Schulkind erreichte im Lesen nicht die IQB Mindeststandards. Das ist seit Jahren schon so, und es wird nicht besser. Der neueste Pisa Bericht beschreibt eine bildungspolitische Katastrophe. Ein Volk der Dichter und der Denker sind wir auf keinen Fall mehr, wenn wir das je waren. Die Kinderbuchautorin Kirsten Boie hatte 2018 eine Hamburger Erklärung initiiert, in der Hoffnung, dass etwas besser wird. Am 20. September, dem Weltkindertag, wurden die gesammelten Unterschriften den Kultusministern der Länder übergeben wurden. Ist irgendwas passiert? 

 

Was soll werden, wenn die Lesefähigkeit sinkt und sinkt? Mit einem Smartphone oder einem Tablet können schon Kinder umgehen, mit einem Roman nicht. Und wenn sie der bunten Glitzerwelt der tausend Apps verfallen, verpassen sie das Schönste im Leben: Das Schönste, was wir gelesen haben, verdanken wir meistens einem uns teuren Menschen. Und mit einem uns teuren Menschen werden wir zuerst über die Lektüre sprechen. Vielleicht eben weil das Charakteristische des Gefühls – wie des Wunsches zu lesen – darin besteht, vorzuziehen. Lieben heißt letztendlich, denen, die wir vorziehen, das zu schenken, was wir vorziehen. Und dieses Teilen macht die Zitadelle unserer Freiheit aus.

Das ist nicht von mir, das ist von dem Franzosen Daniel Pennac, steht in seinem Buch Wie ein Roman. Friedhard hatte es mir geliehen, aber ich habe es mir sofort gekauft, kaum dass ich es zu Ende gelesen hatte. Es ist ein schönes Buch, das dem Leser auch Rechte zugesteht: 1. Das Recht, nicht zu lesen. 2. Das Recht, Seiten zu überblättern. 3. Das Recht, ein Buch nicht zu Ende zu lesen. 4. Das Recht, noch einmal zu lesen. 5. Das Recht, irgendwas zu lesen. 6. Das Recht auf Bovarysmus [dh den Roman als das Leben zu sehen]. 7. Das Recht, überall zu lesen 8. Das Recht herumzuschmökern. 9. Das Recht, laut zu lesen. 10. Das Recht zu schweigen. Das ist wichtig: Das Schweigen ist der Garant für unser intimes Verhältnis zum Buch. Es ist ausgelesen, aber wir sind noch drin. Das bloße Zurückdenken daran ist eine Ausflucht für unsere Ausflüchte. Es bewahrt uns vor der großen Außenwelt. Es bietet uns eine Beobachtungswarte weit oberhalb der zufälligen Szenerien. Wir haben gelesen und wir schweigen. Wir schweigen, weil wir gelesen haben.

Schulen werden mit Computern ausgestattet, jeder Schüler soll ein Tablet haben. Angeblich kann man heute nur noch mit Computern lernen. Man kann das ohne Computer. Wichtiger wäre es, gute Schulbibliotheken aufzubauen. Lehrerbibliotheken gibt es meist, meine Schule hatte eine eindrucksvolle Sammlung der deutschen Literatur, die ich als Schüler benutzen durfte. Ich glaube, ich war der einzige, der das tat. Unser Deutschlehrer Pedro Ziegert brachte uns in der Mittelstufe dazu, eine Klassenbibliothek aufzubauen. Zu der ich damals Alain-Fourniers Der große Kamerad beisteuerte. Wer liest dieses schöne Buch heute noch?

Martin Mader hat es geschafft, sich mit seiner Buchhandlung, die er von der Familie Otto übernommen hatte, nicht nach unten ziehen zu lassen. Dahin, wohin der kleine Ort Vegesack tendiert. Mader und seine Frau Sabine haben vor zwei Jahren in Anerkennung ihrer Arbeit den ersten Bremer Buchhandlungspreis erhalten. Es gab im Ort seit 1955 noch eine zweite Buchhandlung, die auch Otto hieß: Conrad Claus Otto. Das Adreßbuch für den deutschsprachigen Buchhandel vermerkte 1958, dass es hier zu Verwechslungen kommen könnte. C.C. Ottos kleiner Buchladen war neben einer Tankstelle in der Bismarckstraße (die heute Sagerstraße heißt). Gegenüber dem Haus vom Zahnarzt Dr Pickel, das Ernst Becker-Sassenhof gebaut hatte.

Conrad Claus Otto hatte immer die wichtigsten Titel der zeitgenössischen Belletristik in seinem Fenster. Damals verschaffte einem ein Blick in das Schaufenster einer guten Buchhandlung ja noch eine Übersicht über den Literaturmarkt. Die Zeit von Hugendubel, Thalia und Amazon war noch weit weg. Nicht alles, was im Schaufenster war, verkaufte sich. Das nächste Stadium war dann der kleine Grabbelkasten neben der Ladentür. Wo ich 1967 das Buch von Max Moser, Richard Wagner in der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts, billig erstand. Das war ein Band aus der Buchreihe Schweizer Anglistische Arbeiten, man musste die Seiten noch aufschneiden. Es gehörte unternehmerischer Mut dazu, in der Provinz einen solchen Reihentitel im Sortiment zu haben.

Es war eine erstaunliche Buchhandlung für so ein kleines Nest wie Vegesack, sie lebte natürlich von der Persönlichkeit des jungen Buchhändlers. Der auch noch die schönste Frau unserer Schule geheiratet hatte, kaum dass die achtzehn war. Sie hatten sich bei den Proben zu Hindemiths Oper Die Harmonie der Welt kennengelernt, bei denen unser Schulchor mitwirkte (was sie hier lesen können). Conrad Claus Otto war für Bremen-Nord so etwas wie Eckart Cordes in Kiel, obgleich der Kieler Kulturpreisträger vielleicht noch mehr berühmte Autoren in seine Buchhandlung gelockt hat als Conrad Claus Otto in seine. Aber immerhin, Siegfried Lenz, Walter Kempowski und Erich Fried waren hier. Und man bekam bei ihm die Karten für die Vorträge der Wittheit zu Bremen.

Conrad Claus Otto, der im Ort im Gegensatz zu seinen Verwandten immer der junge Otto hieß, veranstaltete auch Aufsatzwettbewerbe an unserer Schule. Als ich mich das erste Mal beteiligte, gewann ich den dritten Preis. Es war ein Buch von Hans Hass (oder war es Jacques-Yves Cousteau?) über Haie und die Welt der Tiefsee. Wenn ich irgendetwas hasse, dann sind es Bücher über Haie. Ich nächsten Jahr war ich der Sieger des Aufsatzwettbewerbs. Ich gewann einen Nachmittag mit einem Jugendbuchautor, dessen Namen ich vergessen habe. Das war noch weniger toll als das Buch über die Haie. Wenn das wenigstens ein Nachmittag mit Gottfried Benn gewesen wäre, es wurde gemunkelt, dass Conrad Claus Otto den kannte. Ich musste an dem Tag zuerst zusammen mit Conrad Claus Otto die Stühle im Saal vom Jugendheim Alt-Aumund aufstellen, dann fuhren wir mit Ottos kleinem VW Käfer (den er sich mit dem Geschäftsgründungskredit zugelegt hatte) zum Bahnhof, um den Autor abzuholen. Die Fahrkünste des jungen Otto waren grauenhaft. Am Ende der Dichterlesung schenkte mir der Autor einige signierte Manuskriptseiten. Ich beschloss, nie mehr an Aufsatzwettbewerben teilzunehmen. Das war erst einmal das Ende meiner Karriere als Essayist. Aber Bücher habe ich natürlich weiterhin bei Otto gekauft, wo ich auch mein erstes Buch von Hans Magnus Enzensberger kaufte. Und einen Band nach dem anderen von der schönen zweisprachigen Ausgabe des Züricher Arche Verlags von Ezra Pound. Wo sollte ich das sonst kaufen? Otto & Sohn waren ein besseres Schreibwarengeschäft, aner sie haben mir immerhin (wenn auch ein wenig zähneknirschend) die englische Ausgabe von Whitmans Leaves of Grass besorgt. 

In den fünfziger Jahren hatte es unten im Ort in der Bismarckstraße neben Harjes noch eine kleine Buchhandlung gegeben, bei der wir aber selten kaufen. Einmal schicken mich meine Eltern dahin, ich sollte Hermann Hesses Das Glasperlenspiel kaufen. Ich wurde gefragt, was das für eine Art Spiel sein soll? Mit dieser erschütternden Auskunft kehre ich nach Hause zurück. Das hatte schon seinen Grund, dass wir da nicht so häufig kaufen. Der Laden war da auch bald verschwunden. Unsere Ausgabe von Das Glasperlenspiel aus dem Jahre 1951 hat den kleinen grünen Aufkleber von Otto & Sohn auf dem Innendeckel des Buches. Die hatten solche Fragen beim Kauf nicht gestellt. In der Reeder Bischoff Straße gab es noch eine Filiale eines Leserings. Die hatten keine guten Bücher, aber eine schöne Buchhändlerin hinter dem Ladentisch.

Nach zwölf Jahren in der Bismarckstraße zog C.C. Otto in die Gerhard Rohlfs Straße um. In dem Haus war zuvor eine Bäckerei gewesen, die die Vegesacker Heringslogger mit Brot versorgte. Aber diese Buchhandlung war nicht mehr der Laden, den ich kannte. Conrad Claus Otto ist 2007 gestorben, seine Frau hat die Buchhandlung 2012 nach siebenundfünfzig Jahren geschlossen. Da war sie fünfzig Jahre im Laden gewesen. Aus Liebe zu ihrem Mann hatte sie nach dem Abitur eine Buchhändlerlehre gemacht. Es gab 2012 einen kleinen Ausverkauf, was mit dem Rest der Bücher werden sollte, wusste sie noch nicht. Aber sie sagte dem Reporter des Weser Kurier, dass sie den Rest lieber verschenken wolle, als ihn zu verramschen. 

Da, wo früher die Buchhandlung C.C. Otto war, sitzt heute Thalia. Was soll man dazu sagen? Inhabergeführte Buchhandlungen stehen vor dem Aus, Leuwer in Bremen gibt es jetzt auch nicht mehr. 1857 gab es in Bremen fünfzehn Buchhandlungen. Sind es heute mehr? Kettenläden und Amazon geben den Ton an. Selbst dem berühmten Strand Bookstore in New York geht es nicht mehr gut. In den Antiquariaten ist es nicht anders. Früher war in Kiel die halbe Uni bei Eschenburg zu finden, heute scheint an der Uni niemand mehr zu lesen. Studenten haben heute kein Sitzfleisch mehr, die Bibliotheken sind leer. Als ich studierte, war es manchmal schwer, einen Platz im Lesesaal zu bekommen, so ändern sich die Zeiten. Muss ich noch einmal Petronius zitieren: Si bene calculum ponas, ubique naufragium est?

Das kleine Moderne Antiquariat in der Holtenauer, Ecke Waitzstraße, ein Ableger vom Antiquariat Bücherwurm, macht jetzt nach vierzig Jahren auch dicht. Das Weihnachtsgeschäft wollen sie noch mitnehmen. Sie hatten immer ein interessantes Angebot, am besten war es im Sommer, wenn sie die Grabbelkästen vor dem Laden auf der Straße stehen hatten. Alles macht zu, scheint die Devise zu sein. Hier im Ort schließt die Kunsthalle für fünf Jahre. Und Tabac Trennt ist auch weg. Es geht viel verloren.

Mittwoch, 6. Dezember 2023

Nikolaustag

 

Ick bin en lüttjen König,
geevt mi nich to wenig,
Laat mi nich so lange stahn,
ick mutt all weder wiedergahn
.

Noch bevor man in der Schule Gedichte lernte, lernte man in Bremen diese Verse. Ich habe große Teile von Schillers und Goethes Gedichten vergessen, aber das Halli, Halli, Hallo, So geiht nah Bremen to, das vergisst man nicht. Und so durfte in diesem Blog im Dezember 2010 ein Post zum Nikolaus nicht fehlen, es war mein erster Nikolaustag als Blogger. Damals wusste ich noch nicht, wohin die Reise ging. Jetzt kennt mich die Welt. Darf man das so sagen? Meine Leser mögen mich, und ich mag meine Leser. Meine Leser mögen mich, weil ich Geschichten erzähle. Und nebenbei auch noch ein klein wenig Bildung vermittle. Und weil ich hemmungslos subjektiv bin. Ein Zettel mit Goethes Satz: Sieh, liebes Kind, das ist ein Vorzug, den die Leute haben, die nicht schreiben: sie kompromittieren sich nicht, klebt an meinem Schreibtisch. Also da, wo Herman Melville seinen Zettel mit dem Keep true to the dreams of thy youth kleben hatte.

Der Nikolaus Post, der zuerst Sünnerklaas hieß, ist in diesem Blog am 6. Dezember immer wieder mal aufgetaucht. Ich stelle ihn heute in der Version von 2010 hier hin. Damals noch ohne Bilder. Bilder konnte ich noch nicht. Jetzt kann ich alles. Ich wünsche meinen Lesern eine schöne Adventszeit.



Als die Winter noch kälter waren als in diesen Tagen, als die Straßenbeleuchtung noch spärlich war und der Schutzmann noch einen Tschako trug, da waren am Abend des Nikolaustages in Bremen lauter kleine Nikoläuse unterwegs. Der Heilige Nikolaus hieß in dieser Gegend auch Sünnerklaas, was plattdeutsch für Sankt Klaus ist. Je weiter man nach Holland kam, desto mehr verwandelte sich dieses Sünnerklaas (oder Sünnerklaus) zu Sinnerklaas. Es blieb aber immer der gleiche Heilige Nikolaus von Myra, der der Schutzheilige der Kinder und der Seefahrer ist. Weshalb auch jede Hafenstadt eine Nikolaikirche hat. Obgleich Bremen von den Amerikanern besetzt war, hatte Halloween mit trick-or-treat auf uns noch nicht abgefärbt. Bei uns gab es das Nikolauslaufen. Dazu musste man sich verkleiden, eine rote Mütze, ein falscher Bart und ein Stock (die symbolischen Reste des Bischofstabs) gehörten zu dem Outfit. Opas Spazierstock eignete sich hervorragend dafür. Und natürlich ein Sack, in den man die empfangenen Süßigkeiten wie Moppen und Spekulatius tat. Und man musste sein Sprüchlein an jeder Tür in der Nachbarschaft aufsagen:

Nikolaus de gode Mann,
kloppt an alle Dören an.
Lüttje Kinner gifft he wat,
grode steckt he in'n Sack.
Halli, Halli, Hallo,
So geiht nah Bremen to.


Und wenn da nicht schnell genug die Süßigkeiten rausgerückt wurden, dann kam da noch, unter Aufstampfen des Stockes, eine zweite Strophe:

Ick bin en lüttjen König,
geevt mi nich to wenig,
Laat mi nich so lange stahn,
ick mutt all weder wiedergahn.
Halli, Halli, Hallo,
So geiht nah Bremen to.


Es ging immer nah Bremen to, da wollten die Bremer Stadtmusikanten auch hin (Ei, was, du Rotzkopf, sagte der Esel, zieh lieber mit uns fort, wir gehen nach Bremen, etwas Besseres als den Tod findest du überall). Nun macht es ja keinen großen Sinn, halli, halli, hallo, so geiht nah Bremen to zu singen, wenn man sowieso in Bremen ist. Obgleich die Stadt Bremen für uns in Nordbremen weit, weit weg war. Irgendwie scheint diese Sache mit Bremen (wie vielleicht auch das ganze Nikolauslaufen) aus den Liedern zu kommen, die am Martinstag in Ostfriesland gesungen wurden, wo es Sünnematten, Mattenherrn oder Matten Matten Mähren hieß. Da sang man dann:

Matten-, Mattenmähren,
die Äpfel und die Beeren,
gute[r] Frau [Mann], gib uns was.
Lass uns nicht so lange steh'n!
Wir wollen noch nach Bremen geh'n.
Bremen is ne große Stadt,
da kriegen alle Kinder wat,
die Großen und die Kleinen,
sonst fang se an zu weinen.


Im 19. Jahrhundert hat es in Bremen - der Stadt von der man in Liedern und im Märchen träumt, dass dort alles besser ist - noch andere Strophen zu dem Nikolauslied gegeben, wie zum Beispiel:

Miin Vadder is Zigarrenmaaker,
miin Mudder ruppt Toback.
Un wenn ji dat nich glöben wüllt,
denn steck ick jo inn'n Sack.
Halli, halli, hallo
So geiht na Bremen to.


Das wurde nun wohl in den Stadtteilen gesungen (es ist auf jeden Fall aus Hastedt überliefert), wo die weniger Begüterten wohnten. Und man muss wahrscheinlich auch betonen, dass das Nikolauslaufen zuerst eine Sache der ärmeren Schichten gewesen ist, bevor es im 19. Jahrhundert von allen Bremer Kindern adaptiert wurde. Die Zigarrenmaaker kommen in unzähligen Bremer Döntjes aus dem 19. Jahrhundert vor. Man kann der Strophe auch entnehmen, dass Frauenarbeit in den Bremer Fabriken selbstverständlich ist - miin Mudder ruppt Toback - und auch die Kinderarbeit, selbst wenn sie hier im Nikolauslied nicht vorkommt. Die Zigarrenmaakers sind die erste gewerkschaftlich organisierte Gruppe in Bremen, wo es in der Mitte des 19. Jahrhunderts 78 Tabakfabriken gab. Sie bildeten auch ein Element gesellschaftlicher Unruhe in der sonst festgefügten konservativen bürgerlichen Struktur des 19. Jahrhunderts. Ihr Zusammenschluss verfolgte neben der Wahrung sozialer Interessen auch Ziele in der Allgemeinbildung. Und sie hatten Vorleser in der Fabrik.

Vielleicht kann man das mit den Zigarrenmachern in Kuba vergleichen, die in ihren Fabriken einen Vorleser hatten, der ihnen während der Arbeit Romane vorlas. So hörten die Arbeiter Victor Hugo, Alexandre Dumas, Jules Verne, Shakespeare und Emile Zola. Angeblich sollen so die Zigarrenmarken Montechristo und Romeo y Julieta nach dem Grafen von Montechristo und Shakespeares Theaterstück benannt worden sein. Manchmal lasen die Vorleser auch Politisches aus Zeitungen vor, was bei den Fabrikbesitzern nicht so gut ankam (und manchmal verboten wurde). Ob der leidenschaftliche Zigarrenraucher Karl Marx das gewusst hat? Auch in den Bremer Tabakfabriken hat es solche Vorleser gegeben, die von den Arbeitern bezahlt wurden. Manchmal waren das auch Kinder und Handlanger, die kosteten nicht so viel. Der Beginn der Arbeiterbildung liegt, auf jeden Fall in Bremen, im Tabakrauch.

Vorleser gibt es in Kuba heute immer noch, auch wenn sie - wie Guillermo Cabrera Infante in seiner wunderbaren Kulturgeschichte des Rauchens Holy Smoke etwas gehässig sagt - heute die Gesammelten Werke von Fidel Castro vorlesen müssen. Die erste Zigarrenfabrik in Kuba, die einen bezahlten Vorleser gehabt haben soll, hieß El Figaro. Wenig später folgte Don Jaime Partagas (die Firma und die Zigarre heißt immer noch so), der dem Vorleser sogar ein Lesepult spendierte. Als der amerikanische Innenminister W.H. Seward kurz nach dem Bürgerkrieg die Fabrik von Partagas besuchte, war er von diesem System begeistert. Da hatten schon alle Tabakfabriken in Cuba einen Vorleser. Was sie nicht hatten, waren (im Gegensatz zu Bremen) weibliche Arbeitskräfte. Diese Geschichte, dass eine gute Zigarre auf den Schenkeln einer Kubanerin gerollt sein muss, entstammt männlichen Phantasievorstellungen. Erst Ende der 1870er Jahre fängt die erste Frau in einer Zigarrenfabrik auf Cuba an. Da ist die Oper Carmen schon aufgeführt worden.

Ich erwähne diese Oper nur, weil da eine Zigarettenfabrik drin vorkommt, die der berühmte Wilfried Minks (von Bremen nach Hannover ausgeliehen) Anfang der sechziger Jahre in Hannover so schön auf die Bühne gezaubert hatte. Und der Regisseur hatte den Einfall, Carmen auf der Bühne rauchen zu lassen. Und sie dann so wahnsinnig cool die Ziggi wegschnippen zu lassen, bevor sie L'amour est un oiseau rebelle singt. Der Effekt wurde aber bei der Premiere noch übertroffen. Ein junger, schlaksiger Verehrer der Sängerin der Carmen wanderte den linken Gang entlang bis zur Bühne und warf der Sängerin eine langstielige rote Rose vor die Füße, als sie mit der Habanera fertig war. Danach verließ er den Zuschauerraum. Die Krönung des Ganzen war, dass er eine rote Lederjacke trug. Wo um alles in der Welt kriegt man Anfang der sechziger Jahre eine quietscherote Lederjacke her? Roter als jeder Nikolausmantel. Ich war die ganze Aufführung lang neidisch. Auf die rote Lederjacke und auf diesen Kerl, der die hübsche Sängerin kannte.

Wenn die Strophe mit dem lüttjen König allen geläufig ist, so scheint es in Bremen im 19. Jahrhundert dabei auch noch eine Variation gegeben zu haben, die weniger auf kleine Könige und auf Kinder von Zigarrenmaakers als auf soziales Elend hinweist:

Ick bün so’n lütten Schipperjung,
Mutt all miin Broot verdeen’n,
Den ganzen Dag in’t water stan
Mit mine korten Been’n
Halli, halli, hallo,
Nu geiht’t na Bremen to

Über das allmähliche Verfertigen der Gedanken beim Schreiben: da fange ich mit einer Kindheitserinnerung an, mit Versen, die ich immer noch aufsagen kann, und dann muss ich erkennen, dass wir Bremer mit diesem schönen Brauch nicht allein gewesen sind. Nikolauslaufen hat es überall gegeben. Inzwischen ist es beinahe ausgestorben, jetzt importieren wir kommerzialisierte amerikanische Bräuche wie Halloween. Im Norddeutschen Rundfunk wird darüber abgestimmt, ob die Hörer Last Christmas von Wham hören sollen. 54 Prozent der Anrufer sind dafür. Ich könnte wetten, dass keiner von denen, die den zum Dudelfunk heruntergekommenen NDR hören, ein halbes Dutzend deutscher Weihnachtslieder mit allen Strophen beherrscht.

Und die Zigarrenfabriken in Bremen gibt es auch nicht mehr, wenn man von Resten wie Martin Brinkmann (Lux, Peer Export, Lord Extra) mal absieht. Das hat aber nichts mehr vom Glanz der großen Zeit, als der Zigarrenkönig Friedrich Biermann von der Firma Leopold Engelhardt & Biermann sechstausend Arbeiter beschäftigte. Durch die für Bremen ungünstige Zollordnung hat sich die Zigarrenfabrikation in der zweiten Häfte des 19. Jahrhunderts nach Bünde in Westfalen verlagert. Mein Opa hätte die Villa von Biermann in St. Magnus in den zwanziger Jahren billig kaufen können. Aber dann hätte er jeden Morgen zu seiner Schule durch den Arbeiterstadtteil Grohn (der für ihn den bösen Beinamen Kamerun bei Pumpe hatte) marschieren müssen, und das war dem kaisertreuen Ex-Hauptmann nun wirklich nicht zuzumuten.

Je mehr ich begann, den Anfängen des Nikolauslaufens nachzugehen, musste ich feststellen, dass natürlich die Volkskundler und die Lokalhistoriker sich schon mit dem Thema beschäftigt haben. War ja auch anzunehmen, dass hinter all dem, was wir tun, etwas Mythisches steckt. So wie es uns James George Frazer und Jessie L. Weston (ohne die wäre Eliots The Waste Land nichts geworden) gezeigt haben. Das interessiert einen aber nicht, wenn man mit kalten Füßen, laufender Nase und schidderigem roten Bademantel im Dunkeln an einer fremden Tür klingelt und die magischen Worte sagt: Nikolaus de gode Mann, kloppt an alle Dören an.


Sonntag, 3. Dezember 2023

Segelschiffe


Das kleine Kaff, aus dem ich komme, hat eine ruhmreiche Geschichte im Bau von Segelschiffen. Von den vielen Werften (hier die Langesche Werft um 1835) von der Lesummündung bis zum Fährgrund ist nicht mehr viel übrig geblieben. Nach der Pleite des Bremer Vulkans sind nur noch Abeking & Rasmussen und Lürssen da, die aber durch ihre Spezialisierung sehr gut im Geschäft sind. Die Segelmachereien sind auch so gut wie weg. Beilken ist noch da, aber die Tage, wo ohne die Brüder Beilken bei den deutschen Admiral Cuppers nichts ging, sind lange vorbei. Die schönen Holzsteuerräder der Steuerradfabrik F.W. Bauer in der Weserstraße werden heute als Dekorationsstücke gehandelt, moderne Schiffe haben so etwas nicht mehr. Je weiter die Tage der Segelschiffe entfernt sind, desto teurer werden die Erinnerungsstücke: von Schiffschronometern bis zu hölzernen Steuerrädern.

Natürlich gibt es an der Weser außer Abeking und Lürssen noch ein paar Werften. Die Werft in Elsfleth hat gerade den Auftrag für die Reparatur der Gorch Fock bekommen. Zum Entsetzen der Kieler Lindenau Werft, die den Auftrag schon in der Tasche zu haben schien, und die jetzt vor der Pleite steht. Aber die wenigen Werften, die noch übrig geblieben sind (und die sich gegenseitig die Aufträge wegschnappen) sind natürlich nichts gegen die große Zeit des Schiffbaus an der Weser im 19. Jahrhundert.

Welche dankenswerterweise durch einen Liebhaber namens Peter-Michael Pawlak mustergültig dokumentiert worden ist. Der promovierte Jurist, der Richter am Amtsgericht Blumenthal war, hat in drei reich illustrierten Bänden jedes Schiff dokumentiert. Von der Weser in die Welt: Die Geschichte der Segelschiffe von Weser und Lesum und ihrer Bauwerften 1770 bis 1893 ist uns Vegesackern natürlich am liebsten, weil dieser ➱Band I unseren Heimatort behandelt. Der ➱Band II hat die Elsflether und Oldenburger Werften zum Thema, und der vor kurzem erschienene ➱Band III nimmt sich den Rest der Weser vor. Das alles im Großformat, über fünfzehnhundert Seiten - und beinahe fünfzehnhundert Abbildungen.

Und nicht nur alle Daten zum Bau und zur Geschichte eines jeden Schiffes finden sich bei Pawlik, es gibt auch Übersichtsartikel über die Marinemalerei aus Vegesack. Von Malern wie Fedeler und Jaburg, die jeder Vegesacker kennt, weil sie die Wände des Heimatmuseums (jetzt im Schönebecker Schloss) und des Focke Museums in Bremen zieren. Sie sind uns lieb und teuer. Heute natürlich teuer, weil Darstellungen von Segelschiffen des 19. Jahrhunderts auf dem Kunstmarkt immer teurer werden.

Aber irgendwann sind die Bremer Reeder mit den Werften an der Weser nicht mehr so glücklich. Sie suchen robuste Frachtsegler, die man leicht umbauen kann, die man sowohl für die Passagierfahrt (die Auswanderung nach Amerika wird jetzt zu einem schönen Geschäft) als auch  den Walfang verwenden kann. In Amerika haben sie da einen Schiffstyp, den die Unterweserwerften nicht haben. Also kauften Bremer Reeder sich (meist second-hand) die an der amerikanischen Ostküste (Downeasters) oder in Kanada (Nova-Scotians) gebauten unverwüstlichen Universalschiffe, tauften sie um und gaben ihnen eine neue Flagge. Die Werften an der Unterweser hatten dem Technologievorsprung der Amerikaner nichts entgegenzusetzen.

Denn täuschen wir uns nicht, so sehr wir aus Lokalpatriotismus unsere Werften und unsere Schiffe lieben, und obgleich dies der Höhepunkt von Deutschlands maritimer Geschichte ist: Die Amerikaner sind schon viel weiter. Denn das 19. Jahrhundert ist gleichzeitig der Höhepunkt amerikanischer Schiffbaukunst. Kathedralen Amerikas hat der amerikanische Seefahrtshistoriker Arthur H. Clark diese Schiffe genannt. Sein Buch The Clipper Ship Era: An Epitome of Famous American and British Clipper Ships, Their Owners, Builders, Commanders and Crews 1843-1869 soll hier nicht verheimlicht werden. Der Kauf von diesen Downeasters und Nova Scotians schadet natürlich der heimischen Werftindustrie. Hier beginnt eine Entwicklung, die dazu führen wird, dass Bremer Reeder ihre Schiffe nicht mehr an der Weser bauen lassen, sondern eines Tages auf den shipyards von Strathclyde. Die Schotten sind billiger. Und eines schönen Tages verlagert sich der Schiffbau nach Korea. Hyundai Heavy Industries ist heute die größte Werft der Welt.

Die Downeasters sind von der Forschung ein wenig vernachlässigt worden. Weil sie nicht so schön sind wie die amerikanischen Clipper. Aber sie sind der Liebhaberforschung nicht entgangen. Sie kommen natürlich in Otto Hövers Klassiker Von der Galiot zum Fünfmaster (1934), vor. Und in dem kleinen Büchlein des Kapitäns Rolf Reinemuth Segel aus Downeast (1971), und selbstverständlich lässt Pawlik sie nicht aus. Vor neun Jahren erschien mit dem Buch Downeasters und Nova-Scotians. Amerikanische und kanadische Segler von der Weser von Wolfgang Walter sicherlich das definitive Buch zu dem Thema.

Die Clipper gehörten eigentlich nicht in das Buch, weil sie einen anderen Rumpf und eine völlig andere Besegelung hatten, aber Wolfgang Walter (gelernter Schiffbauer und ehemaliger Konstruktionsleiter bei der Bremer AG Weser) bezieht sie hier mit ein. Das hat seine Berechtigung, zumal er dankenswerterweise auch eine kurze Geschichte der amerikanischen und kanadischen Seefahrt seit der Kolonialzeit liefert. Das Buch verzeichnet akribisch die Lebensläufe von 339 Schiffen. Dabei orientiert sich die ganze Aufmachung an Pawliks Von der Weser in die Welt. Wolfgang Walters Buch ist leider schon wieder vergriffen, das Deutsche Schiffahrtsmuseum und der Convent Verlag sollten sich mal einen Ruck geben und das Buch neu drucken.

Bilder: 1) Lange Werft 1835, unbekannter Künstler 2) Carl Fedeler 3) und 4) Oltmann Jaburg. Dann folgen Bilder von dem Downeaster Henry B. Hyde und dem Clipper Flying Cloud. Der Segeldampfer ist von einem Vegesacker Maler namens Fritz Müller (über den man nicht so viel weiß) und das letzte Bild ist wieder von Carl Fedeler.  


Min Jehan


Ich war letztens einmal wieder an meinem alten Arbeitsplatz, zum zweiten Mal in sechs Jahren. Ein Kollege hatte mich zu seiner Abschiedsfeier eingeladen. Irgendwie sieht der noch viel zu jugendlich aus, um in Pension zu gehen. Als alle Geschenke und Blumensträuße verteilt, alle Reden gehalten waren, bekannte Jens Bahns, dass er sehr gerne Platt schnacke. Das wussten die meisten von uns nicht. Er las dann etwas Witziges von Reimer Bull zum Thema Abschiedsreden vor. Ich erzählte ihm hinterher, er müsse unbedingt mal in meinen Blog schauen und die wunderbare plattdeutsche Übersetzung von Werner Seifert von Kiplings Mandalay lesen.

Er hätte natürlich auch etwas von Klaus Groth vorlesen können, Klaus Groth geht immer. Der Dichter hat heute Geburtstag, und in meiner kleinen Variation des amerikanischen Poetry Month bietet sich da natürlich ein Klaus Groth Gedicht an. Klaus Groth war schon häufig in diesem Blog zu finden. Also zum Beispiel in den Posts Klaus Groth oder Albrecht Roth, aber eine Geschichte habe ich offensichtlich noch nicht erzählt. Ich war vor Jahrzehnten mit meinen Kollegen zur Geburtstagsfeier des Direktors des Seminars in eine Gaststätte eingeladen. Es gab Schweinshaxe mit Sauerkraut. An meinem Tisch saß ein älteres Ehepaar (deren dahingemurmelte Namen ich nicht verstanden hatte), das sich im Laufe des Abends etwas eigentümlich benahm.

Aus irgendeinem Grund hatte ich an dem Abend gegenüber meiner Tischnachbarin die Weserstraße in Vegesack erwähnt, als die beiden mir Gegenübersitzenden mich plötzlich geradezu inquisitorisch auszufragen begannen. Ob unser Haus gegenüber dem Haus von Senator Duckwitz stände? Wem die Häuser daneben gehörten? Gab es das Hotel Bellevue noch? Wie weit es zu dem Gartenlokal Bruns in Leuchtenburg wäre? Und so ging das den ganzen Abend lang. Sie hatten irgendwoher erstaunliche Ortskenntnisse, die offensichtlich aus dem 19. Jahrhundert stammten, hatten den Ort aber anscheinend selbst nie gesehen. Sie taten sehr geheimnisvoll, sagten aber nicht, weshalb sie mich den ganzen Abend mit Fragen löcherten. 

Tage später traf ich meine Tischnachbarin wieder und erkundigte mich, ob sie zufälligerweise das Ehepaar kannte, das mich an dem Abend vom Genuß meiner Schweinshaxe abgehalten hatte. Sie kannte die beiden. Die schrieben nämlich gerade ein Buch über Doris Finke (Bild). Und auf dem Sommersitz des reichen Bremer Weinhändlers Albert Diedrich Finke, dessen Tochter Doris den Dichter aus Schleswig-Holstein geheiratet hatte, hatte Klaus Groth ja viel Zeit verbracht. Der Finkenhof, den Doris auch Kio nannte, war von unserem Haus vielleicht hundert Meter entfernt. Friedrich Engels mag es gesehen haben, als er auf der Weser notierte: Hier liegen die Villen der Aristokraten, deren Anlagen das Weserufer eine kleine Strecke hin wirklich sehr verschönern. Für Klaus Groth war die Zeit auf dem Finkenhof nicht so glücklich wie für seine Doris. Aber er hat hier ein schönes Gedicht geschrieben, das sich nirgendwo im Internet findet. Nur bei mir in dem Post Oase in der bremíschen Wüste. Die reichen Bremer Verwandten haben es den armen Dichter bei jedem Aufenthalt in der Weserstraße spüren lassen, was sie von plattdeutsch dichtenden Nichtsnutzen halten. Die Tagebücher von Doris Groth, die 1985 unter dem Titel Wohin das Herz uns treibt bei Boyens veröffentlicht wurden, zeigen diese Spannungen deutlich auf.

Meine Tischnachbarin wusste zu berichten, dass das mir unbekannte Ehepaar lediglich eine alte Straßenkarte von Vegesack aus dem 19. Jahrhundert besäße und deshalb glücklich war, dass sie nun zufällig jemanden aus dem Ort (und noch dazu aus genau dieser Straße) getroffen hatten. Das hätten sie mir ja eigentlich auch sagen können, die Unterhaltung wäre wesentlich einfacher gewesen. Das Buch des Ehepaares von der Westküste fand ich Jahre später im Grabbelkasten eines Antiquariats.

Ich male normalerweise nicht in meinen Büchern herum, aber hier finden sich doch eine Vielzahl von Anstreichungen. Überall in den Anmerkungen der Verfasser steht da lapidar: nicht ermittelt. Auch den Landgasthof Bruns (hier ihm Bild), wo Doris und Klaus Groth gerne gegessen undmanchmal getanzt haben, haben die Autoren nicht ermittelt; irgendwann habe ich aufgehört, die Fehler in dem Buch zu zählen. Der Schlimmste war, dass die Autoren behaupteten, dass auf dem Grundstück der Finkeschen Villa heute eine Fabrik steht. Leute, habt ihr bei der Schweinshaxe überhaupt nicht zugehört? Die Villa, die die Erben von Albert Diedrich Finke anstelle des ursprünglichen Finkenhofs im 19. Jahrhundert haben errichten lassen, stand dort bis in die achtziger Jahre. Eine Fabrik gibt es in der ganzen Straße nicht.

Über ihr Benehmen sinne ich immer noch nach. Gut, sie kamen aus dem Geburtsort von Klaus Groth, wollten sie seinem Benehmen nacheifern? So feinsinnig er war, blieb er irgendwie doch ein Bauer aus Dithmarschen, nicht selten schroff und herbe. Oder wie ein Kritiker schreibt: Klaus Groth war für den Salon nicht erzogen, wenn er auch oft ein Liebling der Salons gewesen ist. Vielleicht typisch für Groth ist eine Anekdote, die sich im Tagebuch seiner Frau im Jahre 1861 findet: Ferner machte Klaus eine Reise nach Norderney, um Großvater dort zu seinem 84sten Geburtstag zu begrüßen. Dies endete etwas unglücklich u. hinterließ deshalb eine Mißstimmung. Der König von Hannover kam auf Norderney an. Großvater wünschte, daß Klaus sich ihm vorstellen ließe. Klaus wollte es nicht u reiste Knall auf Fall ab, weil er es dort bei längerem Sein nicht hätte vermeiden können.

Ich könnte heute natürlich Theodor Storms schönes Gedicht bringen, das er 1872 für Klaus Groth geschrieben hat:

Wenn't Abend ward,
Un still de Welt, un still dat Hart;
Wenn möd up't Knee di liggt de Hand,
Un ut din Husklock an de Wand
Du hörst den Parpendikelslag,
De nich to Woort keem över Dag;
Wenn't Schummern in de Ecken liggt,
Un buten all de Nachtswulk flüggt;
Wenn denn noch eenmal kiekt de Sünn
Mit golden Schiin to't Finster 'rin,
Un, ehr de Slap kümmt un de Nacht,
Noch eenmal Allens lävt un lacht -
Dat is so wat vör't Minschenhart,
Wenn't Abend ward.

Aber ich zitiere lieber noch einmal mein Lieblingsgedicht von Klaus Groth, ein Gedicht, das ich noch im Schlaf aufsagen kann. Und das immer wieder schön ist:

Ik wull, wi weern noch kleen, Jehann,
Do weer de Welt so groot!
Wi seten op den Steen, Jehann,
Weest noch? bi Nawers Soot.
An'n Heben seil de stille Maan,
Wi segen, wo he leep,
Un snacken, wo de Himmel hoch
Un wo de Soot wull deep.

Weest noch, wo still dat weer, Jehann?
Dor röhr keen Blatt an'n Boom.
So is dat nu nich mehr, Jehann,
As höchstens noch in'n Droom.
Ach nee, wenn dor de Scheper sung,
Alleen in't wiede Feld:
Ni wahr, Jehann? dat weer en Ton!
De eenzige op de Welt.

Mitünner inne Schummertied
Denn ward mi so to Moot
Denn löppt mi't langs den Rügg so hitt,
As domals bi den Soot.
Denn dreih ik mi so hastig üm,
As weer ik nich alleen:
Doch allens, wat ik finn, Jehann,
Dat is - ik sta un ween.

Jetzt kann ich noch gesungene Versionen von ➱Ernst Busch, ➱Hannes Wader, ➱Ina Müller und (ganz schlimm) ➱Lale Andersen anbieten. ➱Lale Andersen, ➱Ernst Busch und ➱Hannes Wader haben hier schon einen Post, Ina Müller noch nicht. Vielleicht kommt das ja noch mal. 

Reichsflotte


Am 14. Juni 1848 hat die deutsche Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche beschlossen, dass man eine Reichsflotte haben müsse. Nicht aus den Gründen, aus denen ➱Wilhelm II eine Flotte haben wollte, sondern wegen der Dänen. Mit denen ist man im Krieg, und die Dänen haben eine Flotte und blockieren die deutschen Häfen (wie hier 1848 in Kiel). 

Wir können nichts dagegen machen, weil wir ja keine Flotte haben. Aber zwei Jahre nach dem Beschluss der Nationalversammlung haben wir dann doch eine Reichsflotte. Hier schwimmt sie vor Bremerhaven, von links: Deutschland, Hamburg, Bremen, Lübeck, Barbarossa, Der Königliche Ernst August, Hansa. Die Barbarossa war das Flaggschiff des Admirals, der sich in Griechenland hatte beurlauben lassen.

Er heißt Rudolf Brommy, und er hat ➱hier schon einen Post. Sein Vorgesetzter Arnold Duckwitz, der Handelsminister des deutschen Bundes, der jetzt auch noch Marineminister wird, steht auch schon in diesem Blog. Klicken Sie doch einfach einmal ➱Arnold Duckwitz an. Ich zitiere mal eben einige Sätze aus diesem Post: Das mit Arnold Duckwitz weiß ich, seit ich lesen kann. Denn über dem Eingang des großen Hauses bei uns gegenüber, in dem das Fräulein Carla Hockemeyer mit ihren Dackeln wohnte, war eine Steintafel, auf der stand: Auf diesem Landsitz wohnte Arnold Duckwitz 1802 bis 1881 Bürgermeister von Bremen 1848 Reichshandelsminister in Frankfurt a.M. Gründer der ersten deutschen Reichskriegsflotte. 

Wenn man gegenüber dem Haus eines Reichshandels- und Marineministers wohnt, dann wächst man mit der Reichsflotte auf, vor allem, wenn der Opa ein pensionierter Lehrer ist. Die deutsche Reichsflotte hatte kein langes Leben. Vier Jahre nach dem Gründungsbeschluss von 1848 wird ihre Auflösung beschlossen, viele Einzelstaaten sind nicht mehr bereit, sie zu finanzieren. Und Preußen will längst unter dem Prinzen Adalbert eine eigene Flotte aufbauen. Die deutsche Flotte kommt unter den Hammer. Mit dem Verkauf hat der Bund einen Mann beauftragt, der nun wirklich keinen guten Ruf hat, einen gewissen Laurenz Hannibal Fischer.

Den ehemaligen Regierungspräsidenten des Fürstentums Birkenfeld hatte der Großherzog von Oldenburg 1848 gefeuert, der ver­steckte Fürstenhund und Reaktionär reinsten Wassers war nicht mehr tragbar. Wie er die Stellung als Bundescommissär für die Auflösung der Flotte bekommen hat, weiß niemand so genau. Gegen seine Entlassung wird er eines Tages mit einer Schrift protestieren, die einen barocken Titel hat: Ehren- und Rechts-Vertheidigung des Fürstl. Lippischen wirklichen Geheimenrathes, Ritter des Koeniglich preussischen roten Adlerordens zweiter Klasse Laurenz Hannibal Fischer gegen die grossherzogl. Oldenburgische Regierung wegen verhängter Entfernung aus seiner gesetzlichen Heimath, Gehalts-Verkürzung, Dienstentsetzung, Pensionsentziehung und Verlustigung seiner Capitularstelle nebst der damit verbundenen Ordens-Präbende.

Im Lamentieren ist er immer gut, der Flotten-Fischer. Diesen Namen bekommt er jetzt noch zu dem ver­steckten Fürstenhund und dem Reaktionär reinsten Wassers hinzu. Er hat sich das redlich verdient. Er zertrampelt das zarte Pflänzchen, das die 48er Revolution hervorgebracht hatte. Wir können uns das heute kaum vorstellen, dass viele damals die Reichsflotte als ein revolutionäres Projekt empfanden. Der junge ➱Adolph Bermpohl, der eines Tages die ➱Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger gründen wird, ist mit fünfzehn von zu Hause weg, er will bei der Revolution dabei sein. Und auch das Gedicht, das Hermann Allmers nach dem Tode von Brommy für den Grabstein schreiben wird, enthält noch etwas vom Geist von 1848:

Karl Rudolf Brommy ruht in diesem Grabe
Der ersten deutschen Flotte Admiral
Gedenkt des Wackren und gedenkt der Tage,
An schöner Hoffnung reich und bittrer Täuschung.

Fischer wickelt die deutsche Flotte ab. Auf der vor Brake liegenden Deutschland kommt jetzt alles unter den Hammer. Zuallerletzt ein Holzsarg. Fischer hat für nichts Respekt, die Ankerkette des des dänischen Linienschiffs, das 1849 vor ➱Eckernförde von den deutschen Batterien in Brand geschossenen wurde, galt der deutschen Marine als ein Symbol des Sieges. Fischer verkauft sie als Alteisen. Er hätte wahrscheinlich auch die Flagge des Flaggschiffs Barbarossa verkauft, aber die hatte Brommy mit nach Hause genommen. Sieben Jahre später wird sie seinen Sarg bedecken.

Friedrich Rückert schreibt in seinen ➱Kampfliedern für Schleswig- HolsteinO Hannibal, verrufner Fischer, Mein Hildburghausen schämt sich deiner; Du zeigtest dich verrätherischer Als gegen uns der Dänen einer... Und der Zoologe Ernst Haeckel notiert in seinen Italienbriefen im Mai 1859: ... Gestern morgen hatten wir an der S. Lucia ein prächtiges Schauspiel. Wir waren früh eben vom Baden zurückgekehrt, als wir sechs mächtige Dampfschiffe nebeneinander am Horizont bemerkten, welche sich rasch näherten und um 9 Uhr hier einliefen. Es waren sechs große Kriegsschiffe der englischen Marine, darunter das größte derselben, "Marlborough", mit 131 Kanonen, eine wahre kolossale schwimmende Festung, gegen die alle andern Fahrzeuge wie schwimmende Zwerge aussahen. Das Schauspiel der Einfahrt in den Golf war ganz prächtig, wie sich die Schiffe, in eleganter Bogenlinie an der Breite des Hafens herumfahrend und sich präsentierend, dann gegenüber der S. Lucia vor Anker gingen und nun die übliche Salutkanonade begann, die, da das Admiralsschiff den Admiral an Bord hatte, besonders glänzend ausfiel.

Zuerst feuerte das Admiralsschiff seine mächtigen Salven, dann eines der Schiffe nach dem andern; hierauf wurde das Feuer von den Hafenbatterien, den Kastels und sämtlichen im Hafen liegenden neapolitansichen Kriegsschiffen, Fregatten, zuletzt auch von der amerikanischen Fregatte erwidert. Es war ein prächtiger Anblick, als die mächtigen Dampfwolken sich auf den dunkelblauen Spiegel lagerten und dann langsam und feierlich an den Bergen hinaufstiegen. Gestern und heute habe ich mich nicht genug an dem prächtigen Anblick der im Kreis grade vor der S. Lucia liegenden und von meinem Fenster aus bequem sichtbaren Kriegsdampfer erfreuen können. Heut nachmittag bin ich bei sehr hochgehender See in einer kleinen Barke zwischen ihnen herumgefahren und ihre kolossale Größe von außen bewundert. Wie würde mir das Herz schlagen, wenn das eine deutsche Flotte wäre!! O, Hannibal Fischer! - . . .

Hannibal Fischer, der die Flotte weit unter Wert verramscht hat (zwei Fregatten sichert sich Preußen, das jetzt eine eigene Flotte aufbaut), wird im Juli 1853 als Bundeskommissar entlassen. Er sieht sich als Märtyrer, wie er mit seinem Buch Politisches Martyrthum deutlich macht. Wie sein Martyrium ausgesehen hat, können Sie hier in der Zeitschrift ➱Die Gartenlaube nachlesen. Die Redaktion fühlte sich bemüßigt, das nölende Lamentieren mit einem ganz wunderbaren Zusatz zu versehen: Wir entnehmen diese Skizze dem soeben unter dem Titel: Politisches Martyrthum, eine Kriminalgeschichte mit Aktenstücken, erschienenen Buche des durch seine koburger Gefangenschaft neuerdings wieder oft besprochenen einstigen Flottenauctionators und weiland lippe’schen Staatsmininster Hannibal Fischer. Wie weit die hier mitgetheilten Thatsachen auf Wahrheit beruhen, wollen und können wir nicht untersuchen, eben so wenig, wie wir den Standpunkt und die oft kläglichen politischen Auslassungen des Verfassers einer Kritik unterwerfen mögen, die z. B. das sogenannte politische Maryrthum dieses Mannes in einer für ihn sehr unangenehmen Weise beleuchten würde, jedenfalls sind aber die Mittheilungen nicht ohne Interesse und geben ein ganz hübsches Bild jüngstvergangener vaterländischer Zustände. D. Redakt.

Das klingt sehr aktuell. Wenn wir das ein klein wenig umschreiben, können wir es auch auf ➱Alexander Gauland beziehen.


Noch mehr zu dem Thema Reichsflotte finden Sie in den Posts: Admiral BrommyArnold DuckwitzHermann AllmersFarbsymbolikFriedrich von NoerProvisorische RegierungAdmiral Thomas CochraneAdolph BermpohlUnsere MarineMin JehannHochwasserSommer in Lesmona

Photos, ungeordnet

Ich ging mit meinem Opa den Weg zum  Weyerberg  hinauf, links von uns in dem kleinen Wäldchen war ein Mann mit einer Baskenmütze bei der Gar...