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Donnerstag, 22. Februar 2024

Photos, ungeordnet


Ich ging mit meinem Opa den Weg zum Weyerberg hinauf, links von uns in dem kleinen Wäldchen war ein Mann mit einer Baskenmütze bei der Gartenarbeit. Das ist Hans Saebens, sagte mein Opa. Musste ich den kennen? Ich fragte Opa, wer Hans Saebens sei. Ein berühmter Photograph, sagte er. Ich hatte noch nie von ihm gehört, ich war ja noch jung. Aber zehn Jahre später, als ich zu photographieren begann, da kannte ich seine Bilder. Jetzt habe ich mehrere Bücher über ihn. Das war noch alles Schwarzweiß Photographie, mit kleiner Blende photographiert, knallscharf. 

Und mit viel Gelbfilter, damit die Wolken so schön herauskamen. 13 DIN Film und mit Neofin Blau entwickelt. Den Horizont tiefgelegt wie die Holländer; er wusste, wie man es macht, er hatte ja als Landschaftsmaler in Worpswede angefangen: Es gelingt ihm, das Charakteristische der norddeutschen Tiefebene in dramatischen, stimmungsvollen Aufnahmen festzuhalten. Das weite Land und die mächtigen Wolkenzusammenballungen werden in deutlich voneinander abgegrenzten hellen und dunklen Bildzonen festgehalten. Vor allem seine späten Aufnahmen sind durch Sparsamkeit der Ausdrucksmittel und strenge Komposition gekennzeichnet.

Er war durch Zufall zur Photographie gekommen, hatte sich 1930 eine Leica gekauft. Er photographierte nicht nur Worpswede, er photographierte sich auch durch ganz Bremen. Das Focke Museum besitzt 26.000 Photos von ihm. Zu seinem sechzigsten Todestag zeigte das Museum die Ausstellung Bilder für Bremen 1930-1959. Dies Bild vom nächtlichen Herdentorsteinweg ist eins davon. Dreißig Jahre zuvor hat es in der Bremer Landesbildstelle die Ausstellung Hans Saebens Photographien 1930-1959 gegeben. Bei booklooker will ein Händler 390 Euro für den Katalog haben, da bin froh, dass ich den besitze.

Photobücher sind teuer geworden, noch teurer sind Originalabzüge eines Photos. Zum Beispiel einer der 1.300 Abzüge, die Ansel Adams von seinem Moonrise, Hernandez, New Mexico gemacht hat. Der teuerste Abzug brachte vor Jahren bei Sotheby's 685.000 Dollar. Die Reproduktion, die in meinem Flur hängt, hat auch schon Geld gekostet. Im Shop der Familie von Ansel Adams, die seine Bilder vermarktet, kostet das Bild zweihundert Dollar. Es gibt nur ein einziges Negativ von dem Bild, Adams hat die Abzüge im Labor immer wieder verändert: Attempting to convey the intensity of his experience watching the moon rise over this austere landscape, Adams progressively increased the contrast in the prints, heightening the moon’s whiteness and deepening the sky’s darkness, steht auf der Seite des MoMa. Der erste Abzug hat wahrscheinlich so ausgesehen wie auf dem linken Bild.

Ich besitze nur ein einziges Photo, das von einem Photographen signiert ist, und das sieht so ähnlich aus wie diese Postkarte hier. Bei mir ist nur noch ein großer Frachter in der Bildmitte. Der Photograph muss für dieses Bild der Weser bei Vegesack auf die Balustrade vor der Villa Fritze geklettert sein, um diesen Blick über den Stadtgarten auf die Weser präsentieren zu können. Mein Bild ist 27 x 39 cm groß, es ist unten rechts signiert Erich Maack. Der ist auch der Photograph der Postkarte, die er in seinem Laden unter dem Titel Vegesack, die Stadt am hohen Ufer verkaufte. Das Bild hat mich gerahmt bei einem Hinterhofhöker zehn Mark gekostet; wie es dahin gekommen war, weiß ich nicht.

Dieses Bild konnte man 1940 auch bei Maack als Postkarte kaufen, es zeigt das Rathaus von Aumund. Das Haus kenne ich, weil ich da meinen Führerschein abgeholt habe, damals war das Straßenverkehrsamt in dem Gebäude. Was ich allerdings nicht wußte, und was wohl in den sechziger Jahren wenige wußten, war die Tatsache, dass diese 1860 erbaute ehemalige Villa der Reederfamilie Lange in den vierziger Jahren der Sitz der Gestapo war. Wahrscheinlich wußte das Erich Maack auch nicht.

Was Erich Maack normalerweise photographierte, also neben Konfirmations- und Paßbildern (und dem Portrait meiner Mutter im Abendkleid mit Silberfuchsstola), waren die Schiffe des Bremer Vulkan und der Lürssen Werft. Fünfzehntausend Photos vom Vulkan sind im Bremer Staatsarchiv archiviert, die Lürssen Werft, für die er 4.500 Bilder gemacht hat, hat heute ihr eigenes Archiv. 

Wer Erich Maack war und was er machte, das wußte ich schon, als ich jung war. Auch wenn ich damals noch nicht wußte, wer Hans Saebens war. Ich war mit Erich Maacks Tochter Annegret in der Volksschule in einer Klasse. Sie ist in diesem Blog schon an zwei Stellen aufgetaucht. Dass sie so schön singen konnte, steht in dem Post Ingeburg Thomsen, und in dem Post Hafenrundfahrt kann man sie auf einem Photo sehen. Sie ist die kleine mit dem Pagenkopf rechts neben der großen blonden Gabi. In dem Post Photographieren steht viel über das Photogeschäft, das Erich Maacks Vater Fritz Maack dem Photographen Gustav Dähn 1932 abgekauft hatte. 1992 hatte Erich Maack das Geschäft seinem Sohn Dieter übergeben; der Dieter ist gerade im Alter von einundachtzig Jahren gestorben, und damit hat die Photographie in Vegesack nach neunzig Jahren ein Ende gefunden. Heute knipst ja jeder mit dem Handy. Der Bremer Vulkan braucht keinen Photographen mehr, die Werft gibt es nicht mehr.

Das Photographieren gehörte in den fünfziger Jahren zu unserem Leben, also bevor wir entdeckten, dass es auch Frauen und französische Filme gab. Ekke und ich hatten ein kleines Photolabor in den Häusern unserer Eltern, Peter war der erste, der eine Spiegelreflex Kamera besaß, Gert hatte von seinen Eltern eine alte Leica geschenkt bekommen. Manche von uns wurden Photographen, wie meine Klassenkameraden Bernd Wurthmann und Eberhard Petzold. Der Eberhard photographiert Schiffe und hat damit großen Erfolg. Also, er photographiert nicht nur Schiffe, wie Erich Maack oder Hans Saebens (der hier einen Neubau auf dem Vulkan photographiert hat) das getan haben. Das hätte er er auch vom Schönebecker Sand aus tun können. Es geht ihm um die Darstellung der weltweiten Schiffahrt, dafür ist er auch jahrelang auf Handelsschiffen mitgefahren. 

Die Monika, die dieses Photo von der Gudrun gemacht hat (und auch das Photo von mir in dem Post Ziggis), wollte eigentlich Photographin werden. Sie hatte eine tolle Photoausrüstung, dies Bild hier ist mit einer Rolleiflex gemacht worden. Mone hat eine Ausbildung als Photographin gemacht, hat es sich dann aber anders überlegt, hat Kunstgeschichte studiert und bei Erich Hubala promoviert. Den kenne ich, weil er einer meiner Prüfer im Fach Kunstgeschichte war. Er taucht auch noch ohne Namensnennung gleich am Anfang von dem Post Palladio auf.

Wer dieses Bild gemacht hat, weiß ich nicht, aber ich weiß, wer die Frau auf dem Bild ist. Und dass das Wort Danger etwas mit ihr zu tun hat. Die Mone hat eine Vielzahl von Bildern von Gudrun gemacht, ich habe von beinahe allen einen Abzug. Die Aneignung von Bildern ist wie die Aneignung einer Person, da bin ich wie Proust mit seiner Liebe zu Photographien. Ich habe der Gu damals gesagt, dass sie ohne Frage ein Model werden könnte. Vielleicht für die Firma Marimekko, deren Kleider sie so gerne trug. Das Bild in dem Absatz da oben, wo sie mit dem weißen Regenmantel vor der Strandlust steht, gefällt mir am besten. Außer den Bildern, die Mone in Dänemark von uns gemacht habe. Wenn ich einen Scanner hätte, dann könnte man jetzt hier das Bild von Gudrun im Bikini in den Dünen von Hennestrand sehen.

Statt des Bikinibilds habe ich an dieser Stelle ein ganz anderes Bild von ihr, und ich muss dazu vorweg sagen: das ist richtige Kunst. Auch wenn es nicht so aussieht. Es ist ein Unikat von einem amerikanischen Professor für Photographie namens David Van Allen. Der hatte zuvor eigentlich normale Portraits mit seiner Nikon geknipst, aber dann wurde er von den multiple images von David Hockey beeinflusst: I encountered the photographic work of the English painter, David Hockney, in the 1980’s and started experimenting with multiple images fragments to create an image that possessed a larger, more humanly perceptible sense of time and space. Auf seiner Homepage können wir lesen: I make life-size, film-based, multiple-image, photographic portraits. Several moments in time and several points of view are incorporated into the creation of one of these portraits. They take a couple of months to assemble and cost between $1.000 and $3.000. Für diese Gudrun will er fünftausend Dollar haben.

Hier hat er sie noch einmal photographiert, das steht sie rank und schlank neben der Collage; sie ist fünfundfünzig Jahre alt, sieht aber jünger aus, forever young. Wenn Sie auf dieser Seite mit dem Scanner über die Figur gehen, können Sie sehen, wie das Ganze zusammengesetzt ist. Ich mag die wirkliche Frau lieber als das multiple-image, photographic portrait. Ich frage mich nur, warum will er es verkaufen? 

Als er das seltsame Photo machte, hatte er eine Affaire mit seinem Modell, aus der für Jahre eine long distance relationship wurde, sie in Mexico, er in Iowa. Nach ihrem Tod hat er mir geschrieben: Even though we split up, I was still very fond of her and her death was a big assault to my heart. Er hat dann noch eine Adresse beigefügt, wo man seine ganzen Collagen bewundern konnte. Und eine Preisliste. Aber für diese Art der Photographie würde ich kein Geld ausgeben. Für einen Handabzug von Moonrise, Hernandez, New Mexico schon. Und ich habe die Gudrun lieber so wie auf diesem Photo.

Samstag, 3. Februar 2024

drei Ecken, ein Elfer


Wir spielten noch in der Dämmerung. Hätten wir nicht zum Abendessen zu Hause sein müssen, wir hätten noch gespielt, bis es ganz dunkel wurde, bis man den Wasserturm nicht mehr sehen konnte. Und wir hätten wahrscheinlich in der Dunkelheit noch das Tor getroffen. Das Tor war kein richtiges Fußballtor, die Pfosten waren der Baum in der Mitte des Sedanplatzes und ein Haufen von Jacken und Pullovern. Wir waren in der Volksschule, die dank der amerikanischen Besatzer damals sechs Jahre dauerte. 

Der Begriff Straßenfußballer war noch nicht gebräuchlich, aber das waren wir, Straßenfußballer. Unser Leben fand in der Nachkriegszeit sowieso auf der Straße statt. Meine besten Freunde waren Arbeiterkinder, die waren die besten Fußballer. Die wurden immer zuerst gewählt, wenn die Mannschaften verteilt wurden. Ich nur ganz zum Schluss. Dabei trainierte ich Dribbeln im Keller, weil ich im Dribbeln so gut wie Stanley Matthews oder als Verteidiger so gut wie „Sense“ Ackerschott von Werder Bremen sein wollte. 

Am Wochenende nahm mich mein Vater mit nach Bremen zum BSV, bei dem er vor dem Krieg mal in einer Amateurmannschaft gespielt hatte. Als die trotz ihres hervorragenden Torhüters Hans Stephan abstiegen, gingen wir zu Werder ins Weserstadion, die mit Dragomir Ilic einen noch besseren Torwart hatten. Aber in der Woche hieß unsere Welt Sedanplatz, auf dem damals noch keine Autos parkten. Echte Spielfeldgrenzen gab es nicht, doch die Regel „Drei Ecken, ein Elfer“ galt immer. Der Baum in der Mitte des Platzes war kein einfacher Baum. Es war eine deutsche Eiche aus Bismarcks Sachsenwald, die die Sedaneiche hieß. 

Sedan war ein Wort, das großartig klang, das für meinen Opa etwas bedeutete. Obgleich er erst elf Jahre nach der Schlacht geboren wurde, klang der Deutsch-Französische Krieg in seinen Erzählungen immer so, als sei er dabei gewesen. Und sein ewiges Metz, Toul und Verdun habe ich heute immer noch im Kopf. Der Krieg, bei dem er dabei gewesen war, kam erst später. In der ersten Flandernschlacht erhielt der Hauptmann der Reserve aus Vegesack sein Eisernes Kreuz. Eine Sedaneiche gibt es in manchen deutschen Städten heute immer noch. Und man kann sie im Baumarkt kaufen, da bezeichnet Sedaneiche allerdings einen Laminatfußboden.

Im Gegensatz zu der angeblichen Großartigkeit der Schlacht machte der Platz nichts her. Einmal in der Woche Wochenmarkt, einmal im Jahr Vegesacker Markt. Vorne war die Gerhard-Rohlfs-Straße, die damals noch die Bundestraße 75 war. Der Fernverkehr rauschte ungehindert durch den Ort. Ampeln gab es nicht, nur bei Többens war ein Zebrastreifen. Dass Walter Caspar Többens ein (später als „Mitläufer“ eingestufter) Kriegsverbrecher war, wussten wir damals nicht. Gegenüber dem Geburtshaus von Gerhard Rohlfs war eine Bushaltestelle der BVG. Daneben war Scheffels Würstchenbude, deren Bratwurst gut war, aber nie so gut wie die bei Könecke in Bremen. Neben Scheffel war ein kleiner Kiosk, wo man Zeitungen und „Prickel Pit“ kaufen konnte, da holte ich immer für Opa seine Stumpen und die Jerry-Cotton-Hefte, die er im Alter leidenschaftlich gerne las. Weshalb weiß ich nicht. Als Kind versteht man die Erwachsenen sowieso nicht.

Am Ende des Platzes war die Reeperbahn der Seilerei Georg Gleistein. Ein trister grauer Bau, der sich beinahe vierhundert Meter lang bis zum Fährgrund hinunterzog. Dahinter lag Aumund, das war ein anderer Ort. Vegesacker gingen nie nach Aumund, wir Kinder erst recht nicht. Die Straße mit der grauen Mauer der Reepschlägerbahn taucht manchmal noch in meinen Träumen auf, je älter man wird, desto mehr träumt man von der Kindheit. Ich bekam vor Wochen ein Foto vom Sedanplatz zugeschickt, wie er heute aussieht. Ich weiß schon, wie wahr der Romantitel You Can’t Go Home Again von Thomas Wolfe ist, ich hätte das Bild nicht gebraucht.

Samstag, 30. Dezember 2023

Dampfschiffe


Wo Werra sich und Fulda küssen
Sie ihre Namen büßen müssen,
Und hier entsteht durch diesen Kuss
Deutsch bis zum Meer der Weser Fluss
.

Steht auf dem Weserstein in Hannoversch Münden, weiß jedes Kind. Hannoversch Münden (damals noch einfach Münden) steht hier heute im Mittelpunkt des Interesses, weil da die Barbaren von der Mündener Schiffergilde vor 313 Jahren eine bahnbrechende Erfindung kaputt gemacht haben: das erste Dampfschiff in Deutschland.

Nun sind wir in meinem Heimatort Vegesack immer bannig stolz darauf gewesen, dass das erste Dampfschiff Deutschlands 1817 bei uns gebaut wurde. Hieß passenderweise Weser und wurde auf der Langeschen Werft, gleich neben dem Vegesacker Hafen gebaut. Zuerst hatte man sich ja in England umgeguckt, um ein Dampfschiff zu kaufen, hatte aber nichts Richtiges finden können. Also baut man es jetzt selbst. Schiffe bauen, das kann Johann Lange schon, aber ein Dampfschiff, das hat er noch nie gebaut. Das können nur die Engländer. Na ja, das konnte offensichtlich auch der Mann im Jahre 1707, von dem gleich noch die Rede sein wird, den man aber völlig vergessen hatte.

Hinter dem ganzen Projekt steckt ein junger Ingenieur aus Bremen, der Ludwig Georg Treviranus heißt und der eine Art Daniel Düsentrieb ist. Der kommt aus einer berühmten Bremer Familie, seine beiden Brüder sind geachtete Naturwissenschaftler. Ludwig Georg interessiert sich für das Linsenschleifen und für Fernrohre. Wenn Sie diesen Blog lesen, dann wissen Sie natürlich, dass Lilienthal bei Bremen jetzt das Zentrum der deutschen Astronomie ist. Und so landet unser Ludwig Georg Treviranus folgerichtig durch die Vermittlung von Dr Heinrich Wilhelm Olbers eines Tages bei dem berühmten Sir William Herschel in England. Aber da verliert er plötzlich das Interesse am Linsenschleifen und interessiert sich nur noch für Dampfmaschinen. Was das ist, wissen wir dank der unsterblichen Definition vom Lehrer Bommel in der FeuerzangenbowleWat is en Dampfmaschin? Da stelle mer uns janz dumm und da sage mer so: En Dampfmaschin dat is ene jroße schwarze Raum. Der hat hinten un vorn e Loch. Dat eine Loch dat is de Feuerung. Und dat andere Loch dat krieje mer später

In Amerika hat Robert Fulton gezeigt, dass man mit Dampfschiffen auf dem Hudson von New York nach Albany fahren kann, so etwas möchte man jetzt zehn Jahre später auch in Bremen haben. Der Bremer Reeder Friedrich Schröder ist glücklich, dass er den jungen Treviranus gefunden hat, der jetzt beim Bau der Weser hilft. Die Maschine hat man bei Boulton & Watt in England gekauft, Treviranus war vorher bei der Firma von James Watt in Soho gewesen, um die Maschine genau zu studieren. Er ist dann auch auf den ersten Testfahrten an Bord der Weser gewesen, weil niemand diesen neuen Antrieb so verstand wie er. Eine der ersten Testfahrten der Weser führte nach Münden. Da wo Werra sich und Fulda küssen. Treviranus natürlich als Mechaniker und Chefingenieur an Bord. 

Der schreibt auch 1817 eine Woche vor der Jungfernfahrt an die Bremer ZeitungZur Sicherung gegen alle Gefahr [...] dient die auf dem Kessel befindliche Sicherheitsklappe (safety valve) und der in Grade abgetheilte Dampfmesser (steam gauge). [...] Bei unserem hiesigen Dampfboot ist die höchste Expansivkraft, welche die Dämpfe erhalten können, nicht größer, als daß jeder Quadrat-Zoll des Kessels nur durch eine Kraft von ungefähr 3,5 Pfund gedrückt wird, indem bei diesem Druck sich das Ventil zu öffnen beginnt. Daß diese Kraft niemals im Stande sein wird, einen, aus dicken Platten vom besten, geschmiedeten Eisen zusammengesetzten, mit starken Nietnägeln verbundenen Kessel auseinander zu treiben, wird Jedem einleuchten. Es ist auch wirklich meines Wissens noch kein Beispiel vorhanden, daß der Kessel einer, nach dem Prinzip der Herren Boulton und Watt wirkenden Dampfmaschine zersprungen wäre.

Und da hat er Recht gehabt, die Sache funktioniert. Wenn es mit der Personenbeförderung auch nicht ganz so funktioniert, wie der Reeder Friedrich Schröder sich das vorstellt. Aber das liegt daran, dass die Weser versandet, nicht an der Erfindungskraft von Treviranus oder an Mängeln der Maschine von Boulton & Watt. Der Schotte James Watt hat die Dampfmaschine zwar nicht erfunden, aber er hat sie entscheidend verbessert. Derjenige, der das vielleicht alles erfunden hat, ist ein Franzose namens Denis Papin, dem die Angehörigen der Schiffergilde aus Münster sein kleines Dampfboot kaputt machen, weil sie die Konkurrenz fürchten. Alles Erworbene bedroht die Maschine.

Wenn Sie einen Fissler Vitavit in der Küche haben, wird Ihnen der Schnellkochtopf nicht um die Ohren fliegen, weil er ein Überdruckventil hat. Denis Papin ist seine Erfindung explodiert, als er seinen Dampfkochtopf voller Stolz der Royal Society vorführen wollte. Aber dann hat der aus Frankreich vertriebene Hugenotte noch schnell das Überdruckventil dazu erfunden. Und die Dampfmaschine, das U-Boot und den Schaufelraddampfer. Er ist mit seinem Erfindungen nicht reich geworden, ist in bitterer Armut in London gestorben. Falls es Sie im Urlaub mal auf einen Ausflugsdampfer auf der schönen Oberweser verschlägt, dann denken Sie doch mal einen Augenblick an Denis Papin

Das stand hier schon vor dreizehn Jahren, als ich anfing, das Internet vollzuschreiben. Ich stelle es heute noch einmal hier ein, weil am 30. Dezember 1816 der Stapellauf des ersten deutschen Dampfschiffs stattfand, das von einem Deutschen gebaut wurde. Das zweimal deutsch hintereinander in dem Satz ist wichtig, weil es gleichzeitig ein zweites Dampfschiff in Deutschland gibt. 

Das heißt Prinzessin Charlotte von Preußen und schwimmt auf Havel und Spree. Gebaut wurde es von keinem Deutschen, sondern von dem  schottischen Ingenieur John B. Humphreys Jr. Sieben Jahre nach der Jungfernfahrt wurde die Prinzessin Charlotte von Preußen verkauft und abgewrackt. Die Weser fuhr da immer noch auf der Weser. Und bekam zur Zweihundertjahrfeier 2016 eine Briefmarke. Und 2010 hier einen Post.

1816 ist das Jahr der Dampfschiffe auf den deutschen Flüssen. Im Hamburger Hafen macht im Juni die englische Lady of the Lake fest, sie soll Passagiere ins neugegründete Seebad Cuxhaven bringen. Und auch im Juni 1816 fährt die englische Defiance den Rhein hoch. Will nach Frankfurt, aber kommt da nicht an. Die deutschen Flüsse sind noch nicht für die Dampfschiffe geeignet. Doch schon ein  Jahrzehnt später gibt es einen regelmäßigen Schiffsverkehr zwischen Mainz und Köln. Die Schiffe sind voll mit englischen Touristen, denn in England hat Thomas Cook die Pauschalreise erfunden. Im Jahr 1843 sind eine Million Engländer auf dem Rhein gewesen. Sie reisen gern, die Briten, zuerst im 18. Jahrhundert mit ihrer Grand Tour, die der Oberklasse vorbehalten war. Jetzt kommen alle anderen, der Massentourismus ist erfunden. Lesen Sie mehr in dem Post Drachenfels.

Sonntag, 10. Dezember 2023

Sansibar


Ich fange heute mal so an. Wenn Sie das hier sehen, dann lesen Sie bestimmt weiter. Wenn ich mit der Weltpolitik anfange, lesen Sie vielleicht nicht weiter. Dies ist ein Photo aus dem Film ✺Blonde Fracht für Sansibar, der im Original Mozambique hieß. Hildegard Knef spielt da mit. Der kleine Schnipsel da oben und Vivi Bach im Bikini könnten ja ausreichen. Aber ich habe hier für Sie auch das englische Original in ganzer Länge. Und ganz in englischer Sprache. Interessant ist, dass Steve Chochran da mitspielt. Der hat hier mit seiner Rolle in Antonionis Film Il Grido einen langen Post. Und diesen Film schreibt Alfred Andersch in seinen Roman Die Rote hinein. Es ist derselbe Andersch, der Sansibar oder der letzte Grund geschrieben hat. Und da bin ich wieder beim Thema Sansibar.

Heute vor sechzig Jahren erlangte das britische Protektorat Sansibar die Unabhängigkeit. Seit 1890 war die Insel unter der Herrschaft der Engländer gewesen. Weil die damals den sogenannten Sansibar-Helgoland-Vertrag unterschrieben hatten, der uns unter anderem die Insel Helgoland bescherte. Der deutsche Kaiser ließ es sich nicht nehmen, im August 1890 den neuen Teil seines Reiches, der seit 1807 eine britische Kronkolonie gewesen war, mit einer kleinen Flotte zu besuchen. Zehn Jahre später sah Helgoland so aus. Die Straße, die wir hier sehen, hieß natürlich Kaiserstraße. Heute heißt die nicht mehr so, heute heißt die Straße Lung Wai.

Der Sansibar-Helgoland-Vertrag kommt schon mehrfach in diesem Blog vor. Ich zitiere mal eben einen Absatz aus dem Post Kurgäste: Helgoland kommt erst 1890 zu Deutschland. Durch einen Vertrag, der im Volksmund der Helgoland-Sansibar Vertrag heißt. Bismarck, der seinen Nachfolger Leo von Caprivi nicht ausstehen konnte, hat das Gerücht in die Welt gesetzt, dass die Deutschen Helgoland gegen Sansibar getauscht hätten. Ganz so war es nun doch nicht. Aber die Vorstellung, dass es eines Tages statt Butterfahrten nach Helgoland Butterfahrten nach Sansibar gegeben hätte, ist schon komisch. Zu Sansibar haben wir ja immer irgendwelche Beziehungen gehabt. Der Bremer Afrikaforscher Gerhard Rohlfs ist da mal kurz und glücklos Generalkonsul gewesen. Alfred Andersch hat einen Roman namens Sansibar oder der letzte Grund geschrieben, da ist Sansibar ein utopischer Ort, die Hoffnung auf eine bessere Welt ohne die Nazis. Wozu bin ich in der Welt, wenn ich nicht Sansibar zu sehen bekomme, steht bei Andersch.

Das alles könnte ich natürlich etwas genauer sagen, und da fange ich mal eben mit dem Mann aus Vegesack an, der Sansibar zu sehen bekommen hat. Über den ich schon einmal gesagt habe: Warum schreibt nicht endlich einmal jemand ein wirklich gutes Buch über Gerhard Rohlfs? Seit ich an einer Schule, die seinen Namen trägt, Abitur gemacht habe, verfolgt mich der Kerl. Ich habe alles gelesen, was über ihn erschienen ist, aber bis auf einen schmalen Band eines DDR Autoren namens Wolfgang Genschorek aus dem Jahre 1982 kann man das alles vergessen. 

Gut, damals kannte ich das Buch Gerhard Rohlfs: Anmerkungen zu einem bewegten Leben von Günter Bolte noch nicht, das 2019 erschien. Bolte ist ein Amateurhistoriker, der im Heimatmuseum Schönebecker Schloss ehrenamtlich die Gerhard Rohlfs Sammlung betreut und sich durch fünftausend Briefe des Afrikaforschers gelesen hat. Er macht da weiter, wo vor hundert Jahren der Studienrat Alwin Belger angefangen hat. Belger war ein Kollege meines Opas und der Lieblingslehrer meiner Mutter (aber keineswegs der Lieblingslehrer von Ruth Rupp), er ist 1945 bei einem englischen Fliegerangriff neben dem Hotel Bellevue umgekommen. Boltes Buch ist eher ein Forschungsbericht als eine in sich geschlossene Biographie, aber es zeigt in vielen Details auf, dass man Gerhard Rohlfs Schilderungen seines eigenen Lebens keinen Augenblick vertrauen darf.

Doch dass er bei seinem kurzen Aufenthalt als Konsul von Sansibar dem Sultan den Sklavenhandel verbieten wollte, das stimmt wohl. In Berlin mag man diesen Quereinsteiger in Politik und Diplomatie überhauot nicht: Nicht von Haus aus Beamter und von daher mit jenem allen amtlichen Organisationsstrukturen gemäßen Schematismus nicht vertraut, der auch seiner Aufgabe zugrunde lag, nicht dazu zu bewegen, sich den Gepflogenheiten seines - und ebenso des Auswärtigen-Amtes anzupassen, etwa die regelmäßige Berichterstattung strikt einzuhalten, kein geschulter Diplomat und damit innerhalb des exklusiven Diplomatischen Dienstes ein Fremdkörper.

Gerhard Rohlfs ist für mich so etwas wie ein entfernter Verwandter. Ich bin auf einer Gerhard Rohlfs Schule gewesen, da gab es schon in der ersten Klasse in der Aula einen Vortrag über den berühmten Sohn der Stadt. Zu Beginn der Oberstufe gab es einen zweiten Vortrag. Der erste Vortrag war ein wenig auf dem abenteuerlichen Karl May Niveau für Kiddies, der zweite betonte die wissenschaftliche Leistung des Abenteurers. Über die Auswirkungen des Kolonialismus, über den Joseph Conrad Heart of Darkness und Mark Twain King Leopold's Soliloquy geschrieben hat, wurde nie geredet. 

Unser Heimatmuseum, in das mich mein Opa jeden Sonntagmorgen schleppte, wenn er als pensionierter Lehrer den Dienst an der Kasse übernommen hatte, war voll von Gerhard Rohlfs Reliquien. Und seiner gesamten Korrespondenz von 5.000 Briefen. Das Bild hier zeigt das heutige Gerhard Rohlfs Zimmer im neuen Heimatmuseum Schloss Schönebeck. Das Haus, in dem früher das Heimatmuseum war, hatte man an die Freimauer zuückgeben müssen. Aber Gerhard Rohlfs war kein Held meiner Jugend, je mehr ich über ihn las, desto fremder wurde er mir. Irgendwie hat er mehr von Karl May an sich als von Richard Francis Burton

Der Mann, der durch die Sahara gewandert war, ist eine Berühmtheit geworden. Bismarck glaubte, dass er ihn für seine Machtpolitik gebrauchen könnte. Aber als Konsul von Sansibar geriet Rohlfs zwischen alle Fronten, vor allem, weil er mit dem englischen Konsul befreundet war, den er als Kollegen kannte. Und dann war da noch die Sache mit der Prinzessin aus Sansibar. Die hieß Sayyida Salme bint Said, in ihren Memoiren sagt sie uns, dass sie Prinzessin von Sansibar und Oman ist. Sie wurde nicht die Herrscherin von Sansibar, und die ihr zustehenden 350.000 Goldmark des väterlichen Erbes hat sie auch nicht bekommen. Obgleich sich Gerhard Rohlfs immer für sie eingesetzt hat. Dahinter steht eine abenteuerliche Geschichte, die aber heute nicht erzählt wird. Weil die schon seit 2010 in diesem Blog steht. Hat schon mehr als fünftausend Leser, kann aber ruhig noch mehr haben. Klicken Sie mal den Post Emily Ruete an. Bewegte Bilder habe ich auch, Sie können hier den Film Die Prinzessin von Sansibar sehen.

Lesen Sie auch: Afrika

 

Freitag, 8. Dezember 2023

die örtlichen Buchhändler


Martin Mader, seit dreißig Jahren der Inhaber der Buchhandlung Otto und Sohn in der Breiten Straße in meinem Heimatort Vegesack, hat ein Gespenst im Laden. Es heißt Booky und ist das weltweit einzige Buchgespenst. Sie können es hier auf YouTube sehen. Booky soll Kinder zum Lesen bringen, und das mit den vier Booky und Martin Filmchen ist natürlich geschickt gemacht: ein Anreiz zum Lesen für Kinder und eine Werbung für die über neunzig Jahre alte Buchhandlung. 


Es muss etwas geschehen, fast jeder fünfte Viertklässler kann nicht lesen. Fast jedes dritte Bremer Schulkind erreichte im Lesen nicht die IQB Mindeststandards. Das ist seit Jahren schon so, und es wird nicht besser. Der neueste Pisa Bericht beschreibt eine bildungspolitische Katastrophe. Ein Volk der Dichter und der Denker sind wir auf keinen Fall mehr, wenn wir das je waren. Die Kinderbuchautorin Kirsten Boie hatte 2018 eine Hamburger Erklärung initiiert, in der Hoffnung, dass etwas besser wird. Am 20. September, dem Weltkindertag, wurden die gesammelten Unterschriften den Kultusministern der Länder übergeben wurden. Ist irgendwas passiert? 

 

Was soll werden, wenn die Lesefähigkeit sinkt und sinkt? Mit einem Smartphone oder einem Tablet können schon Kinder umgehen, mit einem Roman nicht. Und wenn sie der bunten Glitzerwelt der tausend Apps verfallen, verpassen sie das Schönste im Leben: Das Schönste, was wir gelesen haben, verdanken wir meistens einem uns teuren Menschen. Und mit einem uns teuren Menschen werden wir zuerst über die Lektüre sprechen. Vielleicht eben weil das Charakteristische des Gefühls – wie des Wunsches zu lesen – darin besteht, vorzuziehen. Lieben heißt letztendlich, denen, die wir vorziehen, das zu schenken, was wir vorziehen. Und dieses Teilen macht die Zitadelle unserer Freiheit aus.

Das ist nicht von mir, das ist von dem Franzosen Daniel Pennac, steht in seinem Buch Wie ein Roman. Friedhard hatte es mir geliehen, aber ich habe es mir sofort gekauft, kaum dass ich es zu Ende gelesen hatte. Es ist ein schönes Buch, das dem Leser auch Rechte zugesteht: 1. Das Recht, nicht zu lesen. 2. Das Recht, Seiten zu überblättern. 3. Das Recht, ein Buch nicht zu Ende zu lesen. 4. Das Recht, noch einmal zu lesen. 5. Das Recht, irgendwas zu lesen. 6. Das Recht auf Bovarysmus [dh den Roman als das Leben zu sehen]. 7. Das Recht, überall zu lesen 8. Das Recht herumzuschmökern. 9. Das Recht, laut zu lesen. 10. Das Recht zu schweigen. Das ist wichtig: Das Schweigen ist der Garant für unser intimes Verhältnis zum Buch. Es ist ausgelesen, aber wir sind noch drin. Das bloße Zurückdenken daran ist eine Ausflucht für unsere Ausflüchte. Es bewahrt uns vor der großen Außenwelt. Es bietet uns eine Beobachtungswarte weit oberhalb der zufälligen Szenerien. Wir haben gelesen und wir schweigen. Wir schweigen, weil wir gelesen haben.

Schulen werden mit Computern ausgestattet, jeder Schüler soll ein Tablet haben. Angeblich kann man heute nur noch mit Computern lernen. Man kann das ohne Computer. Wichtiger wäre es, gute Schulbibliotheken aufzubauen. Lehrerbibliotheken gibt es meist, meine Schule hatte eine eindrucksvolle Sammlung der deutschen Literatur, die ich als Schüler benutzen durfte. Ich glaube, ich war der einzige, der das tat. Unser Deutschlehrer Pedro Ziegert brachte uns in der Mittelstufe dazu, eine Klassenbibliothek aufzubauen. Zu der ich damals Alain-Fourniers Der große Kamerad beisteuerte. Wer liest dieses schöne Buch heute noch?

Martin Mader hat es geschafft, sich mit seiner Buchhandlung, die er von der Familie Otto übernommen hatte, nicht nach unten ziehen zu lassen. Dahin, wohin der kleine Ort Vegesack tendiert. Mader und seine Frau Sabine haben vor zwei Jahren in Anerkennung ihrer Arbeit den ersten Bremer Buchhandlungspreis erhalten. Es gab im Ort seit 1955 noch eine zweite Buchhandlung, die auch Otto hieß: Conrad Claus Otto. Das Adreßbuch für den deutschsprachigen Buchhandel vermerkte 1958, dass es hier zu Verwechslungen kommen könnte. C.C. Ottos kleiner Buchladen war neben einer Tankstelle in der Bismarckstraße (die heute Sagerstraße heißt). Gegenüber dem Haus vom Zahnarzt Dr Pickel, das Ernst Becker-Sassenhof gebaut hatte.

Conrad Claus Otto hatte immer die wichtigsten Titel der zeitgenössischen Belletristik in seinem Fenster. Damals verschaffte einem ein Blick in das Schaufenster einer guten Buchhandlung ja noch eine Übersicht über den Literaturmarkt. Die Zeit von Hugendubel, Thalia und Amazon war noch weit weg. Nicht alles, was im Schaufenster war, verkaufte sich. Das nächste Stadium war dann der kleine Grabbelkasten neben der Ladentür. Wo ich 1967 das Buch von Max Moser, Richard Wagner in der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts, billig erstand. Das war ein Band aus der Buchreihe Schweizer Anglistische Arbeiten, man musste die Seiten noch aufschneiden. Es gehörte unternehmerischer Mut dazu, in der Provinz einen solchen Reihentitel im Sortiment zu haben.

Es war eine erstaunliche Buchhandlung für so ein kleines Nest wie Vegesack, sie lebte natürlich von der Persönlichkeit des jungen Buchhändlers. Der auch noch die schönste Frau unserer Schule geheiratet hatte, kaum dass die achtzehn war. Sie hatten sich bei den Proben zu Hindemiths Oper Die Harmonie der Welt kennengelernt, bei denen unser Schulchor mitwirkte (was sie hier lesen können). Conrad Claus Otto war für Bremen-Nord so etwas wie Eckart Cordes in Kiel, obgleich der Kieler Kulturpreisträger vielleicht noch mehr berühmte Autoren in seine Buchhandlung gelockt hat als Conrad Claus Otto in seine. Aber immerhin, Siegfried Lenz, Walter Kempowski und Erich Fried waren hier. Und man bekam bei ihm die Karten für die Vorträge der Wittheit zu Bremen.

Conrad Claus Otto, der im Ort im Gegensatz zu seinen Verwandten immer der junge Otto hieß, veranstaltete auch Aufsatzwettbewerbe an unserer Schule. Als ich mich das erste Mal beteiligte, gewann ich den dritten Preis. Es war ein Buch von Hans Hass (oder war es Jacques-Yves Cousteau?) über Haie und die Welt der Tiefsee. Wenn ich irgendetwas hasse, dann sind es Bücher über Haie. Ich nächsten Jahr war ich der Sieger des Aufsatzwettbewerbs. Ich gewann einen Nachmittag mit einem Jugendbuchautor, dessen Namen ich vergessen habe. Das war noch weniger toll als das Buch über die Haie. Wenn das wenigstens ein Nachmittag mit Gottfried Benn gewesen wäre, es wurde gemunkelt, dass Conrad Claus Otto den kannte. Ich musste an dem Tag zuerst zusammen mit Conrad Claus Otto die Stühle im Saal vom Jugendheim Alt-Aumund aufstellen, dann fuhren wir mit Ottos kleinem VW Käfer (den er sich mit dem Geschäftsgründungskredit zugelegt hatte) zum Bahnhof, um den Autor abzuholen. Die Fahrkünste des jungen Otto waren grauenhaft. Am Ende der Dichterlesung schenkte mir der Autor einige signierte Manuskriptseiten. Ich beschloss, nie mehr an Aufsatzwettbewerben teilzunehmen. Das war erst einmal das Ende meiner Karriere als Essayist. Aber Bücher habe ich natürlich weiterhin bei Otto gekauft, wo ich auch mein erstes Buch von Hans Magnus Enzensberger kaufte. Und einen Band nach dem anderen von der schönen zweisprachigen Ausgabe des Züricher Arche Verlags von Ezra Pound. Wo sollte ich das sonst kaufen? Otto & Sohn waren ein besseres Schreibwarengeschäft, aner sie haben mir immerhin (wenn auch ein wenig zähneknirschend) die englische Ausgabe von Whitmans Leaves of Grass besorgt. 

In den fünfziger Jahren hatte es unten im Ort in der Bismarckstraße neben Harjes noch eine kleine Buchhandlung gegeben, bei der wir aber selten kaufen. Einmal schicken mich meine Eltern dahin, ich sollte Hermann Hesses Das Glasperlenspiel kaufen. Ich wurde gefragt, was das für eine Art Spiel sein soll? Mit dieser erschütternden Auskunft kehre ich nach Hause zurück. Das hatte schon seinen Grund, dass wir da nicht so häufig kaufen. Der Laden war da auch bald verschwunden. Unsere Ausgabe von Das Glasperlenspiel aus dem Jahre 1951 hat den kleinen grünen Aufkleber von Otto & Sohn auf dem Innendeckel des Buches. Die hatten solche Fragen beim Kauf nicht gestellt. In der Reeder Bischoff Straße gab es noch eine Filiale eines Leserings. Die hatten keine guten Bücher, aber eine schöne Buchhändlerin hinter dem Ladentisch.

Nach zwölf Jahren in der Bismarckstraße zog C.C. Otto in die Gerhard Rohlfs Straße um. In dem Haus war zuvor eine Bäckerei gewesen, die die Vegesacker Heringslogger mit Brot versorgte. Aber diese Buchhandlung war nicht mehr der Laden, den ich kannte. Conrad Claus Otto ist 2007 gestorben, seine Frau hat die Buchhandlung 2012 nach siebenundfünfzig Jahren geschlossen. Da war sie fünfzig Jahre im Laden gewesen. Aus Liebe zu ihrem Mann hatte sie nach dem Abitur eine Buchhändlerlehre gemacht. Es gab 2012 einen kleinen Ausverkauf, was mit dem Rest der Bücher werden sollte, wusste sie noch nicht. Aber sie sagte dem Reporter des Weser Kurier, dass sie den Rest lieber verschenken wolle, als ihn zu verramschen. 

Da, wo früher die Buchhandlung C.C. Otto war, sitzt heute Thalia. Was soll man dazu sagen? Inhabergeführte Buchhandlungen stehen vor dem Aus, Leuwer in Bremen gibt es jetzt auch nicht mehr. 1857 gab es in Bremen fünfzehn Buchhandlungen. Sind es heute mehr? Kettenläden und Amazon geben den Ton an. Selbst dem berühmten Strand Bookstore in New York geht es nicht mehr gut. In den Antiquariaten ist es nicht anders. Früher war in Kiel die halbe Uni bei Eschenburg zu finden, heute scheint an der Uni niemand mehr zu lesen. Studenten haben heute kein Sitzfleisch mehr, die Bibliotheken sind leer. Als ich studierte, war es manchmal schwer, einen Platz im Lesesaal zu bekommen, so ändern sich die Zeiten. Muss ich noch einmal Petronius zitieren: Si bene calculum ponas, ubique naufragium est?

Das kleine Moderne Antiquariat in der Holtenauer, Ecke Waitzstraße, ein Ableger vom Antiquariat Bücherwurm, macht jetzt nach vierzig Jahren auch dicht. Das Weihnachtsgeschäft wollen sie noch mitnehmen. Sie hatten immer ein interessantes Angebot, am besten war es im Sommer, wenn sie die Grabbelkästen vor dem Laden auf der Straße stehen hatten. Alles macht zu, scheint die Devise zu sein. Hier im Ort schließt die Kunsthalle für fünf Jahre. Und Tabac Trennt ist auch weg. Es geht viel verloren.

Mittwoch, 6. Dezember 2023

Nikolaustag

 

Ick bin en lüttjen König,
geevt mi nich to wenig,
Laat mi nich so lange stahn,
ick mutt all weder wiedergahn
.

Noch bevor man in der Schule Gedichte lernte, lernte man in Bremen diese Verse. Ich habe große Teile von Schillers und Goethes Gedichten vergessen, aber das Halli, Halli, Hallo, So geiht nah Bremen to, das vergisst man nicht. Und so durfte in diesem Blog im Dezember 2010 ein Post zum Nikolaus nicht fehlen, es war mein erster Nikolaustag als Blogger. Damals wusste ich noch nicht, wohin die Reise ging. Jetzt kennt mich die Welt. Darf man das so sagen? Meine Leser mögen mich, und ich mag meine Leser. Meine Leser mögen mich, weil ich Geschichten erzähle. Und nebenbei auch noch ein klein wenig Bildung vermittle. Und weil ich hemmungslos subjektiv bin. Ein Zettel mit Goethes Satz: Sieh, liebes Kind, das ist ein Vorzug, den die Leute haben, die nicht schreiben: sie kompromittieren sich nicht, klebt an meinem Schreibtisch. Also da, wo Herman Melville seinen Zettel mit dem Keep true to the dreams of thy youth kleben hatte.

Der Nikolaus Post, der zuerst Sünnerklaas hieß, ist in diesem Blog am 6. Dezember immer wieder mal aufgetaucht. Ich stelle ihn heute in der Version von 2010 hier hin. Damals noch ohne Bilder. Bilder konnte ich noch nicht. Jetzt kann ich alles. Ich wünsche meinen Lesern eine schöne Adventszeit.



Als die Winter noch kälter waren als in diesen Tagen, als die Straßenbeleuchtung noch spärlich war und der Schutzmann noch einen Tschako trug, da waren am Abend des Nikolaustages in Bremen lauter kleine Nikoläuse unterwegs. Der Heilige Nikolaus hieß in dieser Gegend auch Sünnerklaas, was plattdeutsch für Sankt Klaus ist. Je weiter man nach Holland kam, desto mehr verwandelte sich dieses Sünnerklaas (oder Sünnerklaus) zu Sinnerklaas. Es blieb aber immer der gleiche Heilige Nikolaus von Myra, der der Schutzheilige der Kinder und der Seefahrer ist. Weshalb auch jede Hafenstadt eine Nikolaikirche hat. Obgleich Bremen von den Amerikanern besetzt war, hatte Halloween mit trick-or-treat auf uns noch nicht abgefärbt. Bei uns gab es das Nikolauslaufen. Dazu musste man sich verkleiden, eine rote Mütze, ein falscher Bart und ein Stock (die symbolischen Reste des Bischofstabs) gehörten zu dem Outfit. Opas Spazierstock eignete sich hervorragend dafür. Und natürlich ein Sack, in den man die empfangenen Süßigkeiten wie Moppen und Spekulatius tat. Und man musste sein Sprüchlein an jeder Tür in der Nachbarschaft aufsagen:

Nikolaus de gode Mann,
kloppt an alle Dören an.
Lüttje Kinner gifft he wat,
grode steckt he in'n Sack.
Halli, Halli, Hallo,
So geiht nah Bremen to.


Und wenn da nicht schnell genug die Süßigkeiten rausgerückt wurden, dann kam da noch, unter Aufstampfen des Stockes, eine zweite Strophe:

Ick bin en lüttjen König,
geevt mi nich to wenig,
Laat mi nich so lange stahn,
ick mutt all weder wiedergahn.
Halli, Halli, Hallo,
So geiht nah Bremen to.


Es ging immer nah Bremen to, da wollten die Bremer Stadtmusikanten auch hin (Ei, was, du Rotzkopf, sagte der Esel, zieh lieber mit uns fort, wir gehen nach Bremen, etwas Besseres als den Tod findest du überall). Nun macht es ja keinen großen Sinn, halli, halli, hallo, so geiht nah Bremen to zu singen, wenn man sowieso in Bremen ist. Obgleich die Stadt Bremen für uns in Nordbremen weit, weit weg war. Irgendwie scheint diese Sache mit Bremen (wie vielleicht auch das ganze Nikolauslaufen) aus den Liedern zu kommen, die am Martinstag in Ostfriesland gesungen wurden, wo es Sünnematten, Mattenherrn oder Matten Matten Mähren hieß. Da sang man dann:

Matten-, Mattenmähren,
die Äpfel und die Beeren,
gute[r] Frau [Mann], gib uns was.
Lass uns nicht so lange steh'n!
Wir wollen noch nach Bremen geh'n.
Bremen is ne große Stadt,
da kriegen alle Kinder wat,
die Großen und die Kleinen,
sonst fang se an zu weinen.


Im 19. Jahrhundert hat es in Bremen - der Stadt von der man in Liedern und im Märchen träumt, dass dort alles besser ist - noch andere Strophen zu dem Nikolauslied gegeben, wie zum Beispiel:

Miin Vadder is Zigarrenmaaker,
miin Mudder ruppt Toback.
Un wenn ji dat nich glöben wüllt,
denn steck ick jo inn'n Sack.
Halli, halli, hallo
So geiht na Bremen to.


Das wurde nun wohl in den Stadtteilen gesungen (es ist auf jeden Fall aus Hastedt überliefert), wo die weniger Begüterten wohnten. Und man muss wahrscheinlich auch betonen, dass das Nikolauslaufen zuerst eine Sache der ärmeren Schichten gewesen ist, bevor es im 19. Jahrhundert von allen Bremer Kindern adaptiert wurde. Die Zigarrenmaaker kommen in unzähligen Bremer Döntjes aus dem 19. Jahrhundert vor. Man kann der Strophe auch entnehmen, dass Frauenarbeit in den Bremer Fabriken selbstverständlich ist - miin Mudder ruppt Toback - und auch die Kinderarbeit, selbst wenn sie hier im Nikolauslied nicht vorkommt. Die Zigarrenmaakers sind die erste gewerkschaftlich organisierte Gruppe in Bremen, wo es in der Mitte des 19. Jahrhunderts 78 Tabakfabriken gab. Sie bildeten auch ein Element gesellschaftlicher Unruhe in der sonst festgefügten konservativen bürgerlichen Struktur des 19. Jahrhunderts. Ihr Zusammenschluss verfolgte neben der Wahrung sozialer Interessen auch Ziele in der Allgemeinbildung. Und sie hatten Vorleser in der Fabrik.

Vielleicht kann man das mit den Zigarrenmachern in Kuba vergleichen, die in ihren Fabriken einen Vorleser hatten, der ihnen während der Arbeit Romane vorlas. So hörten die Arbeiter Victor Hugo, Alexandre Dumas, Jules Verne, Shakespeare und Emile Zola. Angeblich sollen so die Zigarrenmarken Montechristo und Romeo y Julieta nach dem Grafen von Montechristo und Shakespeares Theaterstück benannt worden sein. Manchmal lasen die Vorleser auch Politisches aus Zeitungen vor, was bei den Fabrikbesitzern nicht so gut ankam (und manchmal verboten wurde). Ob der leidenschaftliche Zigarrenraucher Karl Marx das gewusst hat? Auch in den Bremer Tabakfabriken hat es solche Vorleser gegeben, die von den Arbeitern bezahlt wurden. Manchmal waren das auch Kinder und Handlanger, die kosteten nicht so viel. Der Beginn der Arbeiterbildung liegt, auf jeden Fall in Bremen, im Tabakrauch.

Vorleser gibt es in Kuba heute immer noch, auch wenn sie - wie Guillermo Cabrera Infante in seiner wunderbaren Kulturgeschichte des Rauchens Holy Smoke etwas gehässig sagt - heute die Gesammelten Werke von Fidel Castro vorlesen müssen. Die erste Zigarrenfabrik in Kuba, die einen bezahlten Vorleser gehabt haben soll, hieß El Figaro. Wenig später folgte Don Jaime Partagas (die Firma und die Zigarre heißt immer noch so), der dem Vorleser sogar ein Lesepult spendierte. Als der amerikanische Innenminister W.H. Seward kurz nach dem Bürgerkrieg die Fabrik von Partagas besuchte, war er von diesem System begeistert. Da hatten schon alle Tabakfabriken in Cuba einen Vorleser. Was sie nicht hatten, waren (im Gegensatz zu Bremen) weibliche Arbeitskräfte. Diese Geschichte, dass eine gute Zigarre auf den Schenkeln einer Kubanerin gerollt sein muss, entstammt männlichen Phantasievorstellungen. Erst Ende der 1870er Jahre fängt die erste Frau in einer Zigarrenfabrik auf Cuba an. Da ist die Oper Carmen schon aufgeführt worden.

Ich erwähne diese Oper nur, weil da eine Zigarettenfabrik drin vorkommt, die der berühmte Wilfried Minks (von Bremen nach Hannover ausgeliehen) Anfang der sechziger Jahre in Hannover so schön auf die Bühne gezaubert hatte. Und der Regisseur hatte den Einfall, Carmen auf der Bühne rauchen zu lassen. Und sie dann so wahnsinnig cool die Ziggi wegschnippen zu lassen, bevor sie L'amour est un oiseau rebelle singt. Der Effekt wurde aber bei der Premiere noch übertroffen. Ein junger, schlaksiger Verehrer der Sängerin der Carmen wanderte den linken Gang entlang bis zur Bühne und warf der Sängerin eine langstielige rote Rose vor die Füße, als sie mit der Habanera fertig war. Danach verließ er den Zuschauerraum. Die Krönung des Ganzen war, dass er eine rote Lederjacke trug. Wo um alles in der Welt kriegt man Anfang der sechziger Jahre eine quietscherote Lederjacke her? Roter als jeder Nikolausmantel. Ich war die ganze Aufführung lang neidisch. Auf die rote Lederjacke und auf diesen Kerl, der die hübsche Sängerin kannte.

Wenn die Strophe mit dem lüttjen König allen geläufig ist, so scheint es in Bremen im 19. Jahrhundert dabei auch noch eine Variation gegeben zu haben, die weniger auf kleine Könige und auf Kinder von Zigarrenmaakers als auf soziales Elend hinweist:

Ick bün so’n lütten Schipperjung,
Mutt all miin Broot verdeen’n,
Den ganzen Dag in’t water stan
Mit mine korten Been’n
Halli, halli, hallo,
Nu geiht’t na Bremen to

Über das allmähliche Verfertigen der Gedanken beim Schreiben: da fange ich mit einer Kindheitserinnerung an, mit Versen, die ich immer noch aufsagen kann, und dann muss ich erkennen, dass wir Bremer mit diesem schönen Brauch nicht allein gewesen sind. Nikolauslaufen hat es überall gegeben. Inzwischen ist es beinahe ausgestorben, jetzt importieren wir kommerzialisierte amerikanische Bräuche wie Halloween. Im Norddeutschen Rundfunk wird darüber abgestimmt, ob die Hörer Last Christmas von Wham hören sollen. 54 Prozent der Anrufer sind dafür. Ich könnte wetten, dass keiner von denen, die den zum Dudelfunk heruntergekommenen NDR hören, ein halbes Dutzend deutscher Weihnachtslieder mit allen Strophen beherrscht.

Und die Zigarrenfabriken in Bremen gibt es auch nicht mehr, wenn man von Resten wie Martin Brinkmann (Lux, Peer Export, Lord Extra) mal absieht. Das hat aber nichts mehr vom Glanz der großen Zeit, als der Zigarrenkönig Friedrich Biermann von der Firma Leopold Engelhardt & Biermann sechstausend Arbeiter beschäftigte. Durch die für Bremen ungünstige Zollordnung hat sich die Zigarrenfabrikation in der zweiten Häfte des 19. Jahrhunderts nach Bünde in Westfalen verlagert. Mein Opa hätte die Villa von Biermann in St. Magnus in den zwanziger Jahren billig kaufen können. Aber dann hätte er jeden Morgen zu seiner Schule durch den Arbeiterstadtteil Grohn (der für ihn den bösen Beinamen Kamerun bei Pumpe hatte) marschieren müssen, und das war dem kaisertreuen Ex-Hauptmann nun wirklich nicht zuzumuten.

Je mehr ich begann, den Anfängen des Nikolauslaufens nachzugehen, musste ich feststellen, dass natürlich die Volkskundler und die Lokalhistoriker sich schon mit dem Thema beschäftigt haben. War ja auch anzunehmen, dass hinter all dem, was wir tun, etwas Mythisches steckt. So wie es uns James George Frazer und Jessie L. Weston (ohne die wäre Eliots The Waste Land nichts geworden) gezeigt haben. Das interessiert einen aber nicht, wenn man mit kalten Füßen, laufender Nase und schidderigem roten Bademantel im Dunkeln an einer fremden Tür klingelt und die magischen Worte sagt: Nikolaus de gode Mann, kloppt an alle Dören an.


Sonntag, 3. Dezember 2023

Segelschiffe


Das kleine Kaff, aus dem ich komme, hat eine ruhmreiche Geschichte im Bau von Segelschiffen. Von den vielen Werften (hier die Langesche Werft um 1835) von der Lesummündung bis zum Fährgrund ist nicht mehr viel übrig geblieben. Nach der Pleite des Bremer Vulkans sind nur noch Abeking & Rasmussen und Lürssen da, die aber durch ihre Spezialisierung sehr gut im Geschäft sind. Die Segelmachereien sind auch so gut wie weg. Beilken ist noch da, aber die Tage, wo ohne die Brüder Beilken bei den deutschen Admiral Cuppers nichts ging, sind lange vorbei. Die schönen Holzsteuerräder der Steuerradfabrik F.W. Bauer in der Weserstraße werden heute als Dekorationsstücke gehandelt, moderne Schiffe haben so etwas nicht mehr. Je weiter die Tage der Segelschiffe entfernt sind, desto teurer werden die Erinnerungsstücke: von Schiffschronometern bis zu hölzernen Steuerrädern.

Natürlich gibt es an der Weser außer Abeking und Lürssen noch ein paar Werften. Die Werft in Elsfleth hat gerade den Auftrag für die Reparatur der Gorch Fock bekommen. Zum Entsetzen der Kieler Lindenau Werft, die den Auftrag schon in der Tasche zu haben schien, und die jetzt vor der Pleite steht. Aber die wenigen Werften, die noch übrig geblieben sind (und die sich gegenseitig die Aufträge wegschnappen) sind natürlich nichts gegen die große Zeit des Schiffbaus an der Weser im 19. Jahrhundert.

Welche dankenswerterweise durch einen Liebhaber namens Peter-Michael Pawlak mustergültig dokumentiert worden ist. Der promovierte Jurist, der Richter am Amtsgericht Blumenthal war, hat in drei reich illustrierten Bänden jedes Schiff dokumentiert. Von der Weser in die Welt: Die Geschichte der Segelschiffe von Weser und Lesum und ihrer Bauwerften 1770 bis 1893 ist uns Vegesackern natürlich am liebsten, weil dieser ➱Band I unseren Heimatort behandelt. Der ➱Band II hat die Elsflether und Oldenburger Werften zum Thema, und der vor kurzem erschienene ➱Band III nimmt sich den Rest der Weser vor. Das alles im Großformat, über fünfzehnhundert Seiten - und beinahe fünfzehnhundert Abbildungen.

Und nicht nur alle Daten zum Bau und zur Geschichte eines jeden Schiffes finden sich bei Pawlik, es gibt auch Übersichtsartikel über die Marinemalerei aus Vegesack. Von Malern wie Fedeler und Jaburg, die jeder Vegesacker kennt, weil sie die Wände des Heimatmuseums (jetzt im Schönebecker Schloss) und des Focke Museums in Bremen zieren. Sie sind uns lieb und teuer. Heute natürlich teuer, weil Darstellungen von Segelschiffen des 19. Jahrhunderts auf dem Kunstmarkt immer teurer werden.

Aber irgendwann sind die Bremer Reeder mit den Werften an der Weser nicht mehr so glücklich. Sie suchen robuste Frachtsegler, die man leicht umbauen kann, die man sowohl für die Passagierfahrt (die Auswanderung nach Amerika wird jetzt zu einem schönen Geschäft) als auch  den Walfang verwenden kann. In Amerika haben sie da einen Schiffstyp, den die Unterweserwerften nicht haben. Also kauften Bremer Reeder sich (meist second-hand) die an der amerikanischen Ostküste (Downeasters) oder in Kanada (Nova-Scotians) gebauten unverwüstlichen Universalschiffe, tauften sie um und gaben ihnen eine neue Flagge. Die Werften an der Unterweser hatten dem Technologievorsprung der Amerikaner nichts entgegenzusetzen.

Denn täuschen wir uns nicht, so sehr wir aus Lokalpatriotismus unsere Werften und unsere Schiffe lieben, und obgleich dies der Höhepunkt von Deutschlands maritimer Geschichte ist: Die Amerikaner sind schon viel weiter. Denn das 19. Jahrhundert ist gleichzeitig der Höhepunkt amerikanischer Schiffbaukunst. Kathedralen Amerikas hat der amerikanische Seefahrtshistoriker Arthur H. Clark diese Schiffe genannt. Sein Buch The Clipper Ship Era: An Epitome of Famous American and British Clipper Ships, Their Owners, Builders, Commanders and Crews 1843-1869 soll hier nicht verheimlicht werden. Der Kauf von diesen Downeasters und Nova Scotians schadet natürlich der heimischen Werftindustrie. Hier beginnt eine Entwicklung, die dazu führen wird, dass Bremer Reeder ihre Schiffe nicht mehr an der Weser bauen lassen, sondern eines Tages auf den shipyards von Strathclyde. Die Schotten sind billiger. Und eines schönen Tages verlagert sich der Schiffbau nach Korea. Hyundai Heavy Industries ist heute die größte Werft der Welt.

Die Downeasters sind von der Forschung ein wenig vernachlässigt worden. Weil sie nicht so schön sind wie die amerikanischen Clipper. Aber sie sind der Liebhaberforschung nicht entgangen. Sie kommen natürlich in Otto Hövers Klassiker Von der Galiot zum Fünfmaster (1934), vor. Und in dem kleinen Büchlein des Kapitäns Rolf Reinemuth Segel aus Downeast (1971), und selbstverständlich lässt Pawlik sie nicht aus. Vor neun Jahren erschien mit dem Buch Downeasters und Nova-Scotians. Amerikanische und kanadische Segler von der Weser von Wolfgang Walter sicherlich das definitive Buch zu dem Thema.

Die Clipper gehörten eigentlich nicht in das Buch, weil sie einen anderen Rumpf und eine völlig andere Besegelung hatten, aber Wolfgang Walter (gelernter Schiffbauer und ehemaliger Konstruktionsleiter bei der Bremer AG Weser) bezieht sie hier mit ein. Das hat seine Berechtigung, zumal er dankenswerterweise auch eine kurze Geschichte der amerikanischen und kanadischen Seefahrt seit der Kolonialzeit liefert. Das Buch verzeichnet akribisch die Lebensläufe von 339 Schiffen. Dabei orientiert sich die ganze Aufmachung an Pawliks Von der Weser in die Welt. Wolfgang Walters Buch ist leider schon wieder vergriffen, das Deutsche Schiffahrtsmuseum und der Convent Verlag sollten sich mal einen Ruck geben und das Buch neu drucken.

Bilder: 1) Lange Werft 1835, unbekannter Künstler 2) Carl Fedeler 3) und 4) Oltmann Jaburg. Dann folgen Bilder von dem Downeaster Henry B. Hyde und dem Clipper Flying Cloud. Der Segeldampfer ist von einem Vegesacker Maler namens Fritz Müller (über den man nicht so viel weiß) und das letzte Bild ist wieder von Carl Fedeler.  


Photos, ungeordnet

Ich ging mit meinem Opa den Weg zum  Weyerberg  hinauf, links von uns in dem kleinen Wäldchen war ein Mann mit einer Baskenmütze bei der Gar...