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Montag, 12. Mai 2025

Bildauswahl

Heute wird im Overbeck Museum in Vegesack die Ausstellung „Ist mir eine Ehre!“ – Die Lieblingsbilder unserer Ehrenamtlichen eröffnet. Die Ausstellung geht noch bis zum 10. August. Das Overbeck Museum feiert damit sein 35-jähriges Bestehen. Vorher hatte das Gebäude in der Alten Hafenstraße den Namen KITO. Das ist jetzt kein Tippfehler, es hat nichts mit einer Kita zu tun, hier saß mal eine Verpackungsfirma, die Kisten aus Wellpappe herstellte und die den schönen Namen Kistentod hatte. 

Jetzt ist es ein Museum für die Bilder von Fritz Overbeck und Hermine Overbeck-Rohte und ein Ort für kulturelle Veranstaltungen. Das Packhaus ist um 1800 entstanden, man hat es neuerdings richtig aufgerüscht. Natürlich ist es schön, dass die Bilder von Fritz Overbeck, der ja von Worpswede nach Vegesack gezogen war, einen Platz gefunden haben, an dem sie gut zur Geltung kommen. Es ist viel Licht auf dieser Etage des Speichers, mehr Licht als in manchen Ausstellungsräumen in Worpswede oder Fischerhude. Es ist auch schön, dass aus dem etwas vergammelten Packhaus ein Kulturzentrum geworden ist.

Normalerweise bestimmt die Leitung eines Museums, was an die Wände gehängt wird, aber zum 35. Geburtstag des Museums hat die Direktorin Katja Pourshiraz sich etwas anderes einfallen lassen: Zum 35. Geburtstag des Overbeck-Museums bestimmen unsere Ehrenamtlichen, welche Bilder gezeigt werden. Lieblingsbilder, nahezu Unbekanntes und besondere Schätze – wer schon so viele Stunden ehrenamtlich Aufsicht in den Ausstellungsräumen gemacht hat, der hat zu manch einem Kunstwerk von Fritz Overbeck oder Hermine Overbeck-Rohte eine besondere Beziehung und kann etwas darüber erzählen. Deshalb sind den Bildern kurze Texte unserer Ehrenamtlichen zur Seite gestellt, die erzählen, was dieses Werk für sie persönlich bedeutet. Das kann man so machen, da hat jeder etwas davon. Meine beiden Overbecks sind noch bei mir im Wohnzimmer, aber eines Tages werden sie auch diesem Museum gehören, das habe ich schon ins Testament geschrieben.

Als ich die Sache mit der Bildauswahl durch die sechzig Ehrenamtlichen las, fiel mit eine kleine Geschichte ein, die ich in dem Post Russen hätte erzählen können, aber nicht erzählt habe. 1986 präsentierte der Kieler Kunsthallendirektor Jens Christian Jensen aufsehenerregende Neuerwerbungen: Malerei des 19. Jahrhunderts aus Russland und Polen. Erworben aus der Sammlung Georg Schäfer, zu der Jensen im Ruhestand als Kurator wechselte. Berater war er in Schweinfurt schon lange. Die Kunsthalle Kiel war plötzlich das einzige öffentliche Museum in der Bundesrepublik, das russische Malerei besaß. Das ist ungewöhnlich, von der russischen Malerei des 19. Jahrhunderts weiß man ja meistens nicht so viel, von der russischen Literatur schon. Dieses Bild von Iwan Kramskoj war wahrscheinlich das berühmteste Bild aus der Sammlung russischer Malerei. Das Bild der Dame, die von vielen für Anna Karenina gehalten wurde, hat hier schon den Post la belle inconnue.

Jensen, der erste hauptamtliche Direktor der Kunsthalle, hatte durch seine Tätigkeit das verschlafene Kiel aus der Regionalliga in die Champions League der Kunsthallen gebracht. Seine Nachfolger werden dafür sorgen, dass die Kunsthalle Kiel wieder Kreisklasse wird. Einer dieser Direktoren, der auch den schlechtesten Katalog der Kunsthalle zu verantworten hat, war darauf aus, immer in der Presse zu sein oder vor den Kameras des Regionalfernsehens aufzutreten. Und so behängte er die Außenwand der Kunsthalle mit 999 türkischen Fahnen und machte eine Ballermann Ausstellung, Bei der Ramona Drews, die Gattin des Königs von Mallorca, ihre Gemälde aufhängen durfte. Durch diese ganzen Remmidemmi Aktionen wurde die ständige Sammlung ein klein wenig vernachlässigt.

Und nun kommt eines Tages eine hochrangige Delegation russischer Kunstwissenschaftler und Direktoren der Eremitage nach Kiel. Die wollen gerne sehen, wie ihre russische Malerei, die es nur hier in Kiel gibt, gehängt worden ist. Ein legitimer Wunsch. Aber der Direktor kann den russischen Gästen die Bilder nicht zeigen. Nicht Iwan Kramskojs elegante Dame und auch nicht Isaak Iljitsch Lewitans schönes Bild Der stille Weg. Er bereite gerade eine ganz sensationell neue Ausstellung vor, sagt er den russischen Gästen. Bei dieser Ausstellung dürfen die Angestellten der Kunsthalte und die Hilfskräfte bestimmen, was an die Wände kommt. Die russische Delegation, die sich ein halbes Jahr zuvor angemeldet hatte, ist etwas konsterniert. Aber da sagt der Leiter der Delegation: Herr Direktor, ich gratuliere Ihnen. Lenin hat einmal gesagt, wenn meine Sekretärin an meinem Schreibtisch alles machen kann, was ich mache, dann ist der Höhepunkt des Kommunismus erreicht. Sie, Herr Direktor, haben jetzt den Höhepunkt des Kommunismus erreicht. Schöner geht Ironie nicht.

Noch mehr Overbeck in den Posts: Fritz OverbeckIch bin nicht sentimentalGrünkohlWorpswedeWuddelHafenstraße

 

Bremen, 8. Mai 1945

Heute vor achtzig Jahren war der Zweite Weltkrieg zu Ende. Vor vierzig Jahren sagte der Bundespräsident Richard von Weizsäcker in einer Feierstunde im Plenarsaal des Bundestags: Wir Deutsche begehen den Tag unter uns, und das ist notwendig. Wir müssen die Maßstäbe allein finden. Schonung unserer Gefühle durch uns selbst oder durch andere hilft nicht weiter. Wir brauchen und wir haben die Kraft, der Wahrheit so gut wir es können ins Auge zu sehen, ohne Beschönigung und ohne Einseitigkeit. Der 8. Mai ist für uns vor allem ein Tag der Erinnerung an das, was Menschen erleiden mußten. Er ist zugleich ein Tag des Nachdenkens über den Gang unserer Geschichte. Je ehrlicher wir ihn begehen, desto freier sind wir, uns seinen Folgen verantwortlich zu stellen. Sie können die ganze Rede hier lesen. Es lohnt sich auch nach viezig Jahren, das einmal zu tun.

1985 konnten sich viele, die die Schrecken des Krieges und der Verfolgung erfahren hatten, noch genau daran erinnern. Die Geschichten bleiben im Kopf. Wie meine Mutter ihre Schwiegermutter mit Gustav seinem kleinen Laster aus dem Feuersturm von Hamburg herausgeholt hat. Und die ist für die Heldentat ihrer Schwiegertochter gar nicht richtig dankbar gewesen und hat die ganze Autobahn bis Bremen lang nur geheult, wollte immer wieder zurück nach Hamburg. Nach dem, was davon übrig war. Man will immer zurück in die Heimat. Aber viele haben in diesen Tagen ihre Heimat und ihr Zuhause verloren. Viele Väter sind gefallen oder sind Kriegsversehrte wie mein Vater. Viele Familien beklagen Tote. Die erste Liebe meiner Mutter, ein Unteroffizier namens Hans Bünte, gefallen 1940 vor Rotterdam, ihr Cousin Hans vor Leningrad. Vatis Bruder irgendwo in Russland. Tante Margrets Neffe Georg, Hauptmann der Reserve, bei Tscherkassy, kurz nachdem er das Ritterkreuz gekriegt hatte. Omas junger Cousin Ludwig in Nordfinnland, Werners Bruder in Lyon. Sie liegen verstreut über Europa, die Familien wären glücklicher, wenn sie wüssten, wo die Gräber sind. 

Wenn meine Oma Johanna den Kinderwagen nicht in den Graben gekippt hätte und hinterher gesprungen wäre, als der englische Tiefflieger die Straße mit dem MG beharkte, wäre ich nicht auf der Welt. Er wollte wahrscheinlich nicht meine Oma und mich treffen, sein Ziel war wohl die Brücke über den Mittellandkanal. Oder wusste der Pilot, dass wenige Kilometer von hier zwei seiner Kameraden, die mit ihrer Spitfire notgelandet waren, von der Dorfbevölkerung umgebracht worden waren? Man vergisst das alles nicht, auch wenn man vieles vergessen wollte. Wir reden von unserem Leiden, aber nicht von unserer Schuld. Der gerade gewählte Bundespräsident Theodor Heuss tat das schon 1949: Wir dürfen nicht vergessen die Nürnberger Gesetze, den Judenstern, den Synagogenbrand, den Abtransport von jüdischen Menschen in die Fremde, ins Unglück, in den Tod. Das sind Tatbestände, die wir nicht vergessen sollen.

Ein gewisser Björn Höcke war damals noch nicht geboren, er war zwölf Jahre alt, als Weizsäcker seine Rede hielt. Heute verkündet der vom Schuldienst beurlaubte Sportlehrer, dass Weizsäckers Rede zum 8. Mai 1945 eine Rede gegen das eigene Volk und nicht für das eigene Volk war. Er sprach in seiner Rede auch von einer dämlichen Bewältigungspolitik, die uns heute angeblich lähmt. Und er hat auch noch gesagt: es sind nur willensstarke Menschen, die Geschichte schreiben, und das wollen wir tun. Liebe Freunde, die Bundespräsidenten dieser Republik, die haben keine Geschichte geschrieben, und sie haben sehr wenig bedeutsame Reden gehalten. 

Und was war mit der Rede, die Theodor Heuss 1952 in Bergen-Belsen gehalten hat? Wer hier als Deutscher spricht, muss sich die innere Freiheit zutrauen, die volle Grausamkeit der Verbrechen, die hier von Deutschen begangen wurden, zu erkennen, hat er gesagt. Und er fügte den für die damalige Zeit unglaublichen Satz hinzu: Wir haben von den Dingen gewusst. Die Höckes und Gaulands dieser Welt werden keine Geschichte schreiben. Nicht mal eine Fußnote. Auch nicht diese Alice Weidel, die uns erzählen will, dass Hitler ein Linker war. Für sie ist der 8. Mai immer noch ein Tag der Niederlage des eigenen Landes. Die AfD spricht heute von deutschem Leid und alliierten Kriegsverbrechen, ein verzweifelter Versuch, die Geschichte umzuschreiben. 

Theodor Heuss hatte die Problematik des Gedenktages früh erkannt: Im Grunde genommen bleibt dieser 8. Mai 1945 die tragischste und fragwürdigste Paradoxie der Geschichte für jeden von uns. Warum denn? Weil wir erlöst und vernichtet in einem gewesen sind. Es hat ja Jahre gedauert, bis man nicht mehr von einer Niederlage, sondern wie Weizsäcker von einem Tag der Befreiung redete. In seinem Brief an meine Söhne schrieb Heinrich Böll 1984: Ihr werdet die Deutschen daran erkennen können, ob sie den 8. Mai als Tag der Niederlage oder Befreiung bezeichnenDer lange Schatten des Nationalsozialismus hieß das Buch, das der Historiker Reinhard Rürup vor zehn Jahren veröffentlichte, die Höckes und Weidels leben immer noch im Schatten.

Mein Vater trug beim Kriegsende keine Uniform mehr. Die Wehrmacht hatte den Leutnant der Reserve mit sieben Durchschüssen und Granatsplittern im Körper schon etwas früher nach Hause geschickt. Das Eiserne Kreuz hatten sie ihm noch mitgegeben. Als der Krieg wirklich zu Ende war, ist mein Opa von Bad Essen, wo wir untergekommen waren, nach Vegesack marschiert. Er wollte sehen, ob sein Haus in der Weserstraße noch stand. Im Ersten Weltkrieg war er Hauptmann in der Armee seines Kaisers gewesen. Jetzt war er fünfundsechzig und nicht mehr so gut zu Fuß mit seinen Schnürstiefeln. Für die Strecke von mehr als hundertzwanzig Kilometern hat er beinahe eine Woche gebraucht. Irgendwo zwischen Ritterhude und Lesum hat er auf dem Lesumdeich einen Bekannten getroffen und ihn nach der Lage in Vegesack befragt. Der hat ihm gesagt, er solle bloß wieder umkehren, nach Vegesack käme niemand mehr rein. Schon gar nicht in die Weserstraße, die hätten die Amerikaner besetzt. Und den Hof von Redeker hätten sie mit Stacheldraht eingezäunt und zum Gefangenenlager gemacht. Aber ihr Haus steht noch, Herr Lehrer, sagte der Mann, der einmal, wie so viele im Ort, Opas Schüler gewesen war. Mein Opa marschierte nach Bad Essen zurück.

Als die 43. Wessex Division (die zum XXX Corps von General Sir Brian Horrocks gehört) im April 1945 kommt, sind in Bremen alle Weserbrücken gesprengt. Die letzten beiden Brücken hat der Kampfkommandant am 25. April um 11.30 sprengen lassen. Den Tag davor hatte es noch zwei Luftangriffe gegeben. Das waren die Angriffe Nummer 172 und 173 auf die Stadt. Es waren die letzten in diesem Krieg. Am Nachmittag heulten die Luftschutzsirenen noch ein letztes Mal, das 1.233. Mal in diesem Krieg, aber es hatte keinen Angriff mehr gegeben. Als die Große Weserbrücke (die damals Lüderitzbrücke hieß) und die Kaiserbrücke gesprengt werden, hat die 52. Lowland Division schon Hemelingen erreicht und steht da, wo die Borgward Werke sind (wo heute das Daimler Benz Werk ist).

Ich besitze eine Zeichnung von dem Bremer Maler Emil Mrowetz, die er einmal meinem Vater geschenkt hat. Sie ist signiert Zerstörte alte Weserbrücke 1945. Nur das Brückenportal mit den beiden Löwen, die das Bremer Stadtwappen halten, ist unversehrt. Dahinter sind nur noch von den Explosionen der Sprengung aufgebogene Stahlträger zu sehen. Aber die Alte Weserbrücke interessiert den Generalleutnant Brian Horrocks (der in dem Film A Bridge too Far von Edward Fox gespielt wird) wenig. Die Engländer sind schon längst in Hoya über die Weser gekommen, also da unten, wo ich mit der Bundeswehr zwanzig Jahre später Weserübergänge üben darf. Seit Karl dem Großen sind Weserübergänge für Armeen nicht aus der Mode gekommen.

Der Kampfkommandant der Hansestadt, der erst seit drei Wochen in Bremen ist und die Stadt nicht kennt, glaubt aus unerfindlichen Gründen, die Engländer würden bei Vegesack die Fähre über die Weser nehmen. Da sind zwar Engländer, die von Zeit zu Zeit unseren Ort beschießen (und das auch noch über die offizielle →Waffenruhe vom 27. April hinaus), aber die bleiben erst einmal in Lemwerder. Besetzen den Flughafen und sichern sich die letzten Ju 87 Sturzkampfbomber, die die Weserflug da gebaut hatte. Die Masse der englischen Armee hatte längst einen anderen Weg genommen. Die Überschwemmungsgebiete links der Weser zwischen Huchting und Dreye haben die Schotten und Engländer der 3. Division nicht aufhalten können. Am Mittag des 25. April haben sie schon den Flugplatz Neuenlander Feld erreicht. Seit der Landung in der Normandie hat die 3. Division (die Wellington einst begründete) 2.586 Tote und über 12.000 Verwundete zu beklagen. Bei Waterloo waren es weniger.

Zum ersten Mal seit der General Tettenborn Bremen von den Franzosen befreit hat, sind wieder fremde Soldaten auf Bremer Boden. Der Kampfkommandant von Bremen ist in den letzten Kriegswochen ein Generalleutnant namens Fritz Becker, der unter extremem Wirklichkeitsverlust leidet. Er will in seinem Hauptquartier im Haus des Werftdirektors Franz Stapelfeldt (Parkallee 95) Bremen bis zum letzten Mann und bis zur letzten Patrone verteidigen. Das hatte der Gauleiter Paul Wegener befohlen, aber der hat sich schon nach Flensburg zu Dönitz abgesetzt. Militär und Nazis sitzen in Bremens feinster Gegend. Das vornehme Schwachhausen ist kaum bombardiert worden. Den Bomben zum Opfer fallen die Arbeiterviertel neben den Werften an der Weser. Von dem Haus in Walle, wo mein Vater und Oma vor dem Krieg gewohnt haben, ist bis auf die Grundmauern nichts übrig geblieben.

Währenddessen radeln Bremer Senatoren mit dem Fahrrad den Engländern entgegen, um die Übergabe der Stadt vorzubereiten. Die Ecke beim Bunker, wo der Bürgerpark an den Stern und die Hollerallee angrenzt, haben die ersten englischen Truppen von der Somerset Light Infantry den Hyde Park Corner genannt. Der Stellvertreter Beckers, ein Generalmajor Werner Siber, der im Bunker gegenüber der Benquestraße sitzt, ergibt sich als erster mit seinem Stab (zwei Fußballmannschaften stark) den Engländern. Der Boden des kleinen Bunkerraums, in dem sie hocken, ist übersät mit leeren Sektflaschen.

Einige deutsche Offiziere und der Präses der Handelskammer Karl Bollmeyer wollen den starrsinnigen General Fritz Becker in der Stapelfeldt Villa erschießen. Aber das verbietet ihnen die Hausherrin, deren Ehemann gerade erst aus der Gestapo-Haft in sein Haus zurückgekehrt ist: Machen Sie das irgendwo, wo Sie wollen, aber nicht in unserem Haus. Es kommt leider nicht dazu. Obwohl die englischen Panzer schon den Sielwall auf und ab fahren, will der Ritterkreuzträger Becker offiziell immer noch nicht kapitulieren. Er ist inzwischen in den Bunker der 8. Flakdivision an der Einmündung der Emmastraße in die Parkallee umgezogen.

Es bleibt ihm dann aber nichts anderes übrig, als sich zu ergeben. Am frühen Morgen des 27. April holt ihn das Wiltshire Regiment aus seinem Bunker. General Fritz Becker wird sich mit dem Hitlergruss in die englische Gefangenschaft verabschieden. Kein Stil. Kein Bremer. Wie die Bundeswehr 1967 auf die bescheuerte Idee kommen konnte, diesem Mann ein Ehrenbegräbnis auszurichten, kann ich bis heute nicht verstehen. Aber es ist die Zeit, in der sich die Armee mit einem konservativen backlash von Baudissins Idealen der Inneren Führung verabschiedet. Der General Brian Horrocks wird in Bremen zum ersten Mal einen Eindruck davon bekommen, welche →Auswirkungen die 173 Bombenangriffe der Alliierten gehabt haben. Dass das Ergebnis so fürchterlich aussieht, hat er sich nicht vorstellen können. Harry Ditton, der britische Korrespondent der News of the World, schrieb in seinem Bericht vom 29. April 1945: Bremen war und ist verschieden von allen anderen deutschen Städten, die wir eingenommen haben. Sein Todeskampf war viel schwerer. Es hatte sich entschieden, sich gegen sein Schicksal zu wehren.

Horrocks' Mitleid hält sich allerdings in Grenzen, wenn er drei Tage später bei der Befreiung des Kriegsgefangenenlagers Sandbostel nördlich von Bremen auf KZ-ähnliche Verhältnisse trifft. Die englische Armee befreit beinahe 50.000 halbverhungerte Gefangene. Nach Sandbostel waren im April auch Häftlinge aus dem →KZ-Außenlager Farge, die dort den U-Boot Bunker und beim Bremer Vulkan die U-Boote bauten, gebracht worden. Von den etwa 9.000 Häftlingen, die Sandbostel erreichten, starben bis zur Befreiung des Lagers etwa 3.000 an Unterernährung, Krankheiten und Erschießungen durch die SS.

Sir Brian Horrocks, der im Ersten Weltkrieg Kriegsgefangener der Deutschen (und der Russen) war, wird in seiner sehr lesenswerten Autobiographie A Full Life über seinen Schock im Lager Sandbostel schreiben. Davon haben die deutschen Generäle Siegfried Rasp vom Korps Ems und Ernst Busch von der Heeresgruppe Nordwest, die sich Horrocks am 3. Mai ergeben, natürlich nichts gewusst. Das ist jetzt eine gefährliche Krankheit, diese Ahnungslosigkeit, die sich unter deutschen Militärs und Politikern geradezu epidemisch ausbreitet. Je mehr Sterne man auf der Schulter hat, desto weniger hat man gewusst. Der Feldmarschall Ernst Busch, einer der treuesten Anhänger Hitlers, wird wenig später in englischer Gefangenschaft an gebrochenem Herzen sterben.

Horrocks ist dann mit seinem XXX Corps von Sandbostel nach Cuxhaven vorgestoßen. Er hätte Hamburg einnehmen können, aber das darf er nicht, das will Montgomery mit seiner 21st Army Group selbst erobern. Irgendwie schien Horrocks sich da oben im Land Wursten zu langweilen. Er ist von Cuxhaven aus nach Helgoland gefahren, um sich den traurigen Rest der Insel nach dem Bombardement der Royal Air Force vom 18. April 1945 anzugucken (das Photo ist aus dem Jahre 1952, als die Engländer die Insel zurückgaben). Da die Royal Navy Cuxhaven noch nicht eingenommen hatte und kein englisches Kriegsschiff zur Verfügung stand, fuhr er mit einem deutschen Schnellboot, das bei Lürssen in Vegesack gebaut worden war. Ein Jahrzehnt später durfte Lürssen die Dinger dann wieder für die Bundesmarine bauen.

Da man für den Ausflug von Horrocks keine englische Kriegsflagge auftreiben konnte, geschah das Ganze unter deutscher Flagge. Die letzte Aktion der deutschen Kriegsmarine. Und dann muss sich der deutsche Kapitänleutnant noch von einem englischen General sagen lassen, dass die vier Begleitboote keine exakte Formation halten könnten (auf der Rückfahrt konnten sie es). Nach dieser letzten Fahrt unter deutscher Flagge durfte die deutsche Marine Minen räumen. Da hatten sie zwar englische Flaggen, durften aber noch ihre alten blauen Marineuniformen tragen. Allerdings ohne das Hakenkreuz.

Zur Überraschung der Bremer blieben die Engländer nicht in Bremen. Denn am 27. April, dem Tag, an dem in Bremen der Krieg offiziell zu Ende war, kommen auch die ersten Amerikaner an. Die Amerikaner wollten die Stadt (Bremerhaven als Port of Embarcation inklusive) als Nachschubbasis für ihre Truppen in Deutschland haben. Am Montag, dem 30. April (dem Tag, an dem sich Hitler erschoss), musizierte noch eine schottische Militärkapelle mit ihren Dudelsäcken auf dem Markt, am nächsten Tag wurden aber schon die ersten amerikanischen Flaggen an offiziellen Gebäuden gesehen. Und das Bremer Rathaus wird zu einer Bierhalle für die amerikanische Armee: GI Joe's Number 1 (die Vegesacker Strandlust wird GI Joe's Number 2).

Mit dem Einzug der Amerikaner wurde die Stadt zur Amerikanischen Enklave, die wenigen Autos, die den Krieg überlebt hatten, bekamen 1946 die Autonummer AE. Meine Mutter hatte ihr kleines Auto, auf das sie so stolz war, bei Kriegsbeginn auf der Bürgerweide, wo heute der Bremer Freimarkt stattfindet, abstellen müssen. Sie bekam eine gestempelte Quittung, aber den Wagen hat sie nie wiedergesehen.

Alles um Bremen herum war unter englischer Verwaltung und hieß jetzt Britisch Niedersachsen (Autonummer BN). Also Lemwerder zum Beispiel, wo die Yachtwerft von Abeking & Rasmussen war. Als ein amerikanischer Offizier, der begeisterter Segler war, 1945 entdeckte, was da auf der anderen Weserseite war, hat er die ganze Werft erstmal mit Off Limits und Out of Bounds Schildern zugepflastert. Und alle Yachten für recreational purposes beschlagnahmt. Die Engländer, die das gleiche vorhatten, kamen einen Tag zu spät. Die hatten natürlich auch jemanden, der ein Exemplar von Uffa Fox’ Buch über Segelboote besaß. Die Amerikaner werden übrigens eines Tages alle beschlagnahmten Boote zurückgeben. Bis auf eins. Angeblich von Engländern geklaut.

Obgleich die Engländer eigentlich schon genügend Segelboote besaßen. General Horrocks hatte nämlich bemerkt, dass alle Segelyachtbesitzer ihre Boote in den kleinen Nebenflüssen der Weser versteckt hatten, die jetzt alle unter englisches Hoheitsgebiet fielen. Er hat alle requiriert, die Hälfte davon musste er allerdings willy nilly später an die Royal Navy abgeben. Die wollten auch segeln. In Kiel war das ähnlich, die Engländer richteten im Kieler Yacht Club ihre erste Kommandantur ein und tauften den Club in British Kiel Yacht Club um, und beschlagnahmten alle Segelyachten. Hermann Görings Yacht Flamingo (auch bei Abeking & Rasmussen gebaut) werden sie erst 2016 bei ihrem Abzug von der Förde zurückgeben.

Meine Mutter hat es den amerikanischen Besatzern nie verziehen, dass sie das Meißner Porzellan geklaut und das Klavier aus dem Fenster geworfen haben. Der Rahmen des Klaviers ist zwar geschweißt worden, aber es klang danach immer etwas schräg. Aber unser Haus in der Weserstraße hatte außer kleineren Bombenschäden am Dach den Krieg überstanden, und als eines Tages die amerikanischen Besatzer das Haus räumten, hatten wir und der Rest der Familie wieder eine eigene Bleibe. Wenn auch ohne das Meißner Porzellan. Hunderttausende waren nicht so glücklich wie wir.

Am 8. Mai 1945 ist der Zweite Weltkrieg zu Ende gegangen. Für den Bremer Lokalhistoriker Herbert Schwarzwälder ist das in einem Ausblick betitelten Kapitel seiner vierbändigen Geschichte der Freien Hansestadt Bremen keine Befreiung gewesen. Bei aller Faktenhuberei, die sein Werk charakterisiert, ist sein Band IV Bremen in der NS-Zeit (1933-1945) doch eine zweifelhafte und letztlich klägliche Sache. Sehr viel besser ist da das Buch Bremen im Dritten Reich: Anpassung - Widerstand - Verfolgung von →Inge Marßolek und René Ott. Keine Geschichte der Gauleiter wie bei Schwarzwälder, sondern eine Geschichte von unten. Die Historiker haben es versäumt, rechtzeitig alles aufzuschreiben. So in der Art von Tom Harrissons Mass Observation in England.

Meine Jugend war das Nachkriegsdeutschland, waren Ruinen, gerettete Photoalben und viele Erzählungen. Alle erzählten vom Krieg. Wenige von der Zeit vorher. Was wäre das für ein Material gewesen, wenn ein Historiker das damals aufgeschrieben hätte! Später in der Oberschule hatte dieser Krieg, dessen Auswirkungen wir alle noch kannten, beinahe nicht stattgefunden. Da gab es den Punischen Krieg, da lasen wir Caesars De Bello Gallico, aber das Kriegsende in Bremen war kein Thema des Unterrichts. Viele Lehrer erzählten uns in den fünfziger Jahren ihren Krieg, sie mussten den Schrecken abarbeiten, dem sie in ihren besten Jahren ausgeliefert waren. Aber niemand sprach von den siebzigtausend Zwangsarbeitern, die die →U-Boote beim Bremer Vulkan und den U-Boot Bunker in Farge gebaut hatten, die an Unterernährung, Entkräftung und Misshandlung gestorben waren. In einem kleinen Birkenwäldchen bei Eggestedt, das wie eine Landzunge in die Äcker hineinreichte, sind manche von ihnen beinahe anonym begraben. Mit Grabkreuzen in kyrillischer Schrift. Die Geschichte ist nicht nur in Büchern zu finden, sie schreibt sich auch in die Natur ein. Da ist sie nur schwer zu lesen.

Meine Cousine Hannelore hat mir vor Jahren ein kleines Büchlein geschenkt, wofür ich ihr ewig dankbar bin. Es heißt Kriegsende 1945: Vegesack und umzu und enthält Erinnerungen, die von den Bewohnern des Ortes aufgeschrieben worden waren. Ich habe beinahe alle, die hier schrieben, noch gekannt. Manches davon kann man nicht glauben, weil es nicht wahr ist. Wie zum Beispiel der Direktor des Bremer Vulkans, der vormalige Wehrwirtschaftsführer Robert Kabelac, der sich hier persilrein wäscht. Aber das meiste ist völlig ehrlich. Unverfälscht und unredigiert, so wie jeder dachte und es erlebt hatte. Ich wollte, es gäbe mehr von solchen Büchern. Man wünschte sich auch im Internet mehr solcher Texte wie diesen →hier oder →diesen. Aber stattdessen findet man im Internet den Krieg, das Militär und die Nazis verherrlichende Seiten bis zum Abwinken. Was Walter Kempowski mit seinem Echolot angestoßen hat, war schon die richtige Idee. Was →Guido Knopp im ZDF serviert hat, sicherlich die falsche. Es ist neuerdings chic geworden, von Erinnerungskultur zu reden. Ich finde das ein fürchterliches Wort. Wir sollten einfach nicht vergessen. Punkt, Ausrufezeichen. Oder, wie es in Kiplings Recessional heißt: Lord God of Hosts, be with us yet, Lest we forget—lest we forget!

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