Unsere Kirche in Vegesack enthält weder Löwenmotive noch eine barocke Prachtausstattung, sie kann auch nicht auf eine mittelalterliche Herkunft zurückblicken. Man hat in Vegesack über Jahrhunderte keine Kirche gebraucht, da der Ort gerichtsmäßig und fiskalisch entweder zum Amt Blumenthal oder Lesum gehörte. Da mussten die Gläubigen sonntags einige Meilen laufen. Erst nachdem Georg Gröning den Engländern den Ort abgeschnackt hat und der Magistrat der Stadt Bremen eine eigene Vegesacker Gemeinde zulässt, stellt sich die Frage einer Kirchengründung. Zur Dreihundertjahrfeier der Reformation am 31. Oktober 1817 vereinigen sich die lutherische und die reformierte Gemeinde zu einer Gemeinde.
Ein Gott, ein Christus, eine Gemeinde wird über dem Portal der Kirche stehen. Auf der Stiftungsurkunde steht als erster Name der des Amtmanns August Christian Wilmanns. Als zweiter unterschreibt der berühmteste Vegesacker,
Dr Albrecht Wilhelm Roth. Dann folgen (ohne systematische Ordnung) 91 Namen mit Berufsangabe: See-Schiffer, Capitain, Lootse, Seemann, Hafenmeister. Ein Abbild der soziologischen Schichtung des Fleckens.
Man macht sich das heute nicht mehr klar, dass diese Vereinigung ein revolutionärer Akt ist. Lutheraner haben im puritanischen Bremen keinerlei Ansehen. Für den calvinistischen Bürgermeister ➱
Johann Smidt kommen sie gleich nach den Juden. Nicht dass Smidt an dem vorherrschenden Kalvinismus Schuld ist. Den bringen die Holländer ins Land, seit Heinrich von Zütphen 1522 in der Ansgari Kirche gepredigt und die Reformation nach Bremen gebracht hat. Jahrzehnte später stürzt der Prediger Albert Rizäus Hardenberg (aus der holländischen Provinz Overijssel) die Stadt in ihre größte politische Krise, Bremen wird sogar aus der Hanse ausgeschlossen. Der Bürgermeister Daniel von Büren (der bei Luther und Melanchton studiert hat) holt Christoph Pezel aus Nassau-Dillenburg nach Bremen.
Pezel, der Prediger an der Ansgari Kirche (Bild) wird und sich Pezelius nennt, sollte im Glaubenskampf zwischen Lutheranern und Kalvinisten vermitteln. Das Ergebnis ist, dass Bremen von nun an reformiert sein wird und Pezelius einen beispiellosen Bildersturm organisieren wird. Daran zu denken, tut einem Lutheraner und Kunsthistoriker immer weh. Der ehemalige Direktor des Focke Museums und Bremer Landesdenkmalpfleger
Werner Kloos führt das Kunstbanausentum der Bremer auf den Bildersturm von Pezel zurück:
Die Verarmung des bremischen Kunstbesitzes rührt aus jener Zeit, jedoch auch eine gewisse allgemeine Gleichgültigkeit gegenüber den Werten künstlerischer Aussage.
Der Kirchenbau in Vegesack wird öffentlich ausgeschrieben, sieben Zimmermeister werden Entwürfe einreichen. Finanziert wird die Kirche aus Spenden und Anteilscheinen. Ein evangelischer Pastor aus Archangelsk sendet 1.000 Rubel. 1821 ist die Kirche fertig, aber man wird sehr schnell feststellen, dass die Kirche zu klein ist. Schon für den ersten Gottesdienst am 5. August 1821 musste man Eintrittskarten ausgeben. 1828 können von 514 Familien nur 197 einen Kirchenplatz mieten. Für den Erweiterungsbau gewinnt man den renommierten Bremer Architekten
Jacob Ephraim Polzin, dessen Entwürfe man 1818 nicht berücksichtigt hatte.
Polzin wird der Kirche ihr heutiges Gesicht geben, den klaren Stil seines Kopenhagener Lehrmeisters
Christian Frederik Hansen. Der die Palmaille und die Marienkirche in Quickborn (Bild) gebaut hat. Der Innenraum unserer Kirche ist sehr ähnlich. Es gibt nicht so viele rein klassizistische Kirchen in Norddeutschland. Das begrüßenswerteste bei der Kirche ist, dass sie nicht durch Modernisierungen verschlimmbessert worden ist.
Die Wände sind kahl und weiß, einen Bildersturm brauchen wir nicht, wir haben von Anfang an keine Bilder (ich lasse die Kopien von Monumentalgemälden von Rubens und Raffael im Raum hinter der Kanzel mal unerwähnt, man sieht die auch kaum). Die Kanzel aus Mahagoni und die liturgischen Farben auf dem Altar sind der einzige Schmuck. Dies ist der Gegenentwurf für Vierzehnheiligen.
Das Mahagoni für die Kanzel wurde von zwei Kapitänen gestiftet. Die haben das Holz wahrscheinlich aus der Südsee mitgebracht. Die Kapitäne wetteifern in dieser Zeit auch darüber, wer die schönste Haustür aus tropischem Edelholz hat, die
Kapitänshäuser in der Weserstraße sind Zeugen davon. Dieses Bild hier hat Polzin sicher mit einem gewissen architektonischen Vergnügen gemalt, es ist das Bremer Zeughaus. War aber auch mal eine
Kirche. Wenn Sie der Meinung sind, dass Kanonen nicht in das Katharinenkloster gehören, stimme ich Ihnen zu. Heute ist da ein Parkhaus und der ➱
Herrenausstatter Stiesing. Ist das besser?
In Bremen gibt es noch eine klassizistische Kirche, die Horner Kirche Zum Heiligen Kreuz, zur gleichen Zeit gebaut, die aber architektonisch nicht so ausgewogen ist wie unsere. Dann ist da noch
St. Ludwig in Celle oder
St. Peter in Krempe. Und natürlich der großartige
Innenraum von St. Lamberti in Oldenburg, der aussieht, als hätte sich
Sir John Soane hier auf Geheiß des Großherzogs Ludwigs ausgetobt. Doch es war nicht Soane, es war ein Baumeister namens
Joseph Bernhard Winck, der auch das Schloss Rastede umgebaut hat.
Der Denkmalpfleger
Rudolf Stein, dem die Bremer alles über die Baugeschichte Bremer Häuser verdanken, sieht in seinem Buch
Klassizismus und Romantik in der Baukunst Bremens eine Nähe der Vegesacker Kirche zur Potsdamer Garnisonskirche und den Kirchenbauten von
Langhans. Mir sind solche Vergleiche etwas zu groß, die Garnisonskirche (das Bild sieht aus, als wäre es
Eduard Gaertner, ist aber von seinem Kollegen
Carl Hasenpflug) habe ich nur in Büchern gesehen. Aber was es an Bildern vom Innenraum gibt, zeigt doch, dass dies viel pompöser ist als unsere schlichte Kirche.
Mir scheint eher, dass Polzins Kirche mit der schlichten Funktionalität etwas von den Idealen
Palladios wahrmacht. Sie hat eine große Ähnlichkeit mit einer Kirche, die auch im Jahre 1832 geweiht wurde, der Walfängerkirche Seamen’s Bethel in New Bedford (Bild). Herman Melville hätte an der Vegesacker Kirche seine Freude gehabt. Seit 1908 braucht man kein Kirchengestühl mehr zu mieten, dennoch sitzen in den fünfziger Jahren die Gemeindemitglieder immer an der gleichen Stelle, an der wahrscheinlich schon ihre Eltern und Ureltern gesessen haben. Natürlich gibt es auch weiterhin Plätze für den Kirchenvorstand. Platz findet man in Kirchen heute immer, nach dem Krieg sind die Kirchen noch voll, heute nicht mehr.
Once I am sure there's nothing going onI step inside, letting the door thud shut.Another church: matting, seats, and stone,And little books; sprawlings of flowers, cutFor Sunday, brownish now; some brass and stuffUp at the holy end; the small neat organ;And a tense, musty, unignorable silence,Brewed God knows how long. Hatless, I take offMy cycle-clips in awkward reverence.
Move forward, run my hand around the font.From where I stand, the roof looks almost new -Cleaned, or restored? Someone would know: I don't.Mounting the lectern, I peruse a fewHectoring large-scale verses, and pronounce'Here endeth' much more loudly than I'd meant.The echoes snigger briefly. Back at the doorI sign the book, donate an Irish sixpence,Reflect the place was not worth stopping for.
Yet stop I did: in fact I often do,And always end much at a loss like this,Wondering what to look for; wondering, too,When churches will fall completely out of useWhat we shall turn them into, if we shall keepA few cathedrals chronically on show,Their parchment, plate and pyx in locked cases,And let the rest rent-free to rain and sheep.Shall we avoid them as unlucky places?
Or, after dark, will dubious women comeTo make their children touch a particular stone;Pick simples for a cancer; or on someAdvised night see walking a dead one?Power of some sort will go onIn games, in riddles, seemingly at random;But superstition, like belief, must die,And what remains when disbelief has gone?Grass, weedy pavement, brambles, buttress, sky,
A shape less recognisable each week,A purpose more obscure. I wonder whoWill be the last, the very last, to seekThis place for what it was; one of the crewThat tap and jot and know what rood-lofts were?Some ruin-bibber, randy for antique,Or Christmas-addict, counting on a whiffOf gown-and-bands and organ-pipes and myrrh?Or will he be my representative,
Bored, uninformed, knowing the ghostly siltDispersed, yet tending to this cross of groundThrough suburb scrub because it held unspiltSo long and equably what since is foundOnly in separation - marriage, and birth,And death, and thoughts of these - for which was builtThis special shell? For, though I've no ideaWhat this accoutred frowsty barn is worth,It pleases me to stand in silence here;
A serious house on serious earth it is,In whose blent air all our compulsions meet,Are recognized, and robed as destinies.And that much never can be obsolete,Since someone will forever be surprisingA hunger in himself to be more serious,And gravitating with it to this ground,Which, he once heard, was proper to grow wise in,If only that so many dead lie round. Philip Larkin macht sich in seinem Gedicht
Church Going Gedanken, was eines Tages aus den leeren Kirchen werden soll. Vor diesem 1954 geschriebenen Gedicht hat sich noch kein Dichter so recht darüber Gedanken gemacht.
Das Land, wo die Kirchen schön und die Häuser verfallen sind, ist so gut verloren als das, wo die Kirchen verfallen und die Häuser Schlösser werden. Aber man sieht es kommen, eines Tages werden Kirchen nur noch einen historischen Status haben, ihren Platz im Gemeindeleben werden sie verlieren, weil es kein Gemeindeleben mehr gibt. Es sei denn, man macht Hundegottesdienste oder Bingo in der Kirche. Das mit den Hundegottesdiensten ist kein Witz, das hat der Vegesacker
Pastor (der lieber an Bord von Kreuzfahrtschiffen als in seiner Gemeinde ist) hingekriegt, glücklicherweise nicht in der Kirche sondern im
Stadtgarten.
Sweet sixteen goes to church, just to see the boys hat Lonnie Donegan 1957 gesungen (war wochenlang in den Charts). Und Sänger hunderte von Jahren davor haben von
Little Musgrave gesungen, der die schöne Frau von Lord Arlen in der Kirche trifft.
Und natürlich gehört das zu Kirchen vor einem halben Jahrhundert auch dazu. Nachdem man sich lange Jahre als Kind in der Kirche gelangweilt hat und nun in ein Alter kommt, in dem einen junge Frauen interessieren, wird die Kirche auch wieder interessanter. Wenn schöne junge Frauen in der Kirche sind,
putting on the style, wie es bei
Lonnie heißt. Wäre schön, wenn der Pastor jetzt noch die sexy Stellen vom
Hohelied Salomonis vortragen würde, aber das scheint irgendwie für den Kirchengebrauch zensiert zu sein. Der Baumeister Polzin macht es einem leicht, schöne junge Frauen in der Kirche zu beobachten, das Kirchengestühl ist, obwohl verwinkelt, so angelegt, dass sich die Gemeinde sehen kann. Hier sitzen nicht alle in einem Langschiff und blicken in eine Richtung, dies ist eine Hallenkirche, die durch die Sitzordnung das Gemeinschaftsgefühl der Gemeinde betont (das Internet hat leider keine Bilder, aber in den im oberen Absatz abgebildeten Büchern von Rudolf Stein sind natürlich Abbildungen). Dies hier ist St Marien in Husum (ähnelt auch der Marienkirche von Quickborn) von Polzins Lehrmeister Christian Frederik Hansen, unsere Kirche sieht innen sehr ähnlich aus.
Die Nachbargemeinden von Vegesack haben meistens neugotische Kirchen aus dem 19. Jahrhundert, die aber recht eindrucksvoll ausfallen können, wie die Aumunder Kirche oder die Blumenthaler Kirche (wobei sie, so eindrucksvoll sie sein mögen, nicht an die
Hemelinger Kirche herankommen). Und natürlich nicht an all das in London, was John Ruskin und Sir John Betjeman so toll fanden. Oder man geht historisierend noch weiter in der Baugeschichte zurück, wie der um die Jahrhundertwende bekannte Architekt
Karl Mohrmann, der in Grohn 1908 eine kompakte neuromanische Kirche baut, eine richtige kleine Trutzburg. Genau für
Pastor Hemmelgarn mit seiner Donnerstimme geeignet.
Mohrmann entwirft um die Jahrhundertwende auch die Blumenthaler
Martin Luther Kirche in der Wigmodistraße, zu der meine Oma immer gegangen ist. Wohin wir am Sonntag gehen, hängt ein wenig von der Laune meiner Mutter ab. Bei dem guten alten Pastor Heinrich Keller, der mit Opa befreundet war, hätte sie nicht die Kirchen von Sonntag zu Sonntag gewechselt, aber mit seinen Nachfolgern kommt sie nicht so zurecht. Weil sie im Herzen, genau wie die ganze querulatorische
Sippschaft aus Westfalen, eine echte Lutheranerin ist. Deshalb hat sie auch in der Aumunder Kirche (einem neugotischen Scheusal, hier das Langschiff) und nicht in Vegesack geheiratet. An das
Ein Gott, ein Christus, eine Gemeinde hat sie bestimmt nie geglaubt.
Wir können daran sehen, dass die Glaubenskämpfe in Bremen mit Pezelius nicht zu Ende sind (
Georg Weidemann will ich jetzt lieber nicht erwähnen). Und so sind wir häufiger in Grohn, weil Pastor Hemmelgarn so eindrucksvoll predigt. Manchmal auch in dem neugotischen Monster in Aumund. Und einmal Weihnachten bei
Manfred Hausmann in der Rönnebecker Kirche (Bild), das gilt in Bremen als chic. Ich persönlich finde das alles ein bisschen albern. Seit dem Mittelalter stehen die Botschaften künstlerisch verschlüsselt, aber doch klar zu erkennen, über der Eingangstür des Gotteshauses. Bei uns braucht man sich nicht einmal in christlicher Ikonographie und Symbolik auszukennen.
Ein Gott, ein Christus, eine Gemeinde - reicht dieses Bekenntnis über der Tür nicht aus? Ich mag unsere Kirche, mir gefällt unsere klassizistische Kargheit und die ausgewogenen Proportionen von Polzins Bau. Nicht nur, weil man da so schön schöne Frauen beobachten kann.
Die einzige Kirche im Bremer Norden, die kunsthistorisch mit uns konkurrieren kann und die auch wirklich schön ist, ist die Lesumer Kirche. Die auch eine Vegesacker Kirche ist, denn jahrhundertelang müssen die Lutheraner aus Vegesack hierhin zum Gottesdienst wandern und auch noch finanziell für den Erhalt der Kirche aufkommen. Die Reformierten gehen nach Blumenthal, aber die haben nicht solch schöne Kirche wie St. Martini. Für die heutige neugotische Kirche (das hier ist sie) hatte der Reeder Christian Heinrich Wätjen 1879 die Summe von 200.000 Reichstaler springen lassen. Im Gegenzug hatte er dafür auch Kirchenland bekommen, um seinen ➱
Park zu vergrößern, in dem er sich ein Schloss nach englischem Vorbild im Tudor Stil bauen lässt (zu den Schlossbauten Bremer Millionäre könnten Sie auch noch die Posts ➱
Horace Walpole und ➱
Knoops Park lesen).
Die Lesumer Kirche hat natürlich auch die pittoreske Lage für sich, auf der Geestkante auf einem kleinen Berg, so dass man sie von Lesumbrook aus schon von weitem sehen kann. Von der Lesum aus natürlich auch. Sie könnten jetzt noch den Post
Sommer in Lesmona lesen. Und sie ist in der Basis alt, noch aus fränkischer Zeit. Da nennt man Kirchen gern St. Martini, weil der Bischof Martin von Tours der Nationalheilige der Frankenkaiser ist. Ich habe einmal im Düsternbrooker Gehölz in Kiel an einem schneegrieseligen Tag in der Abenddämmerung einen Reiter mit einem blauen Mantel gesehen, der den Berg heraufritt.
Das war ein seltsames Erlebnis, bis mir einfiel, dass es Martinstag war und der wahrscheinlich zu einem religiösen Spiel unterwegs war, um dort seinen Mantel zu zerschneiden. Der Turm von St. Martini ist noch aus der Zeit der Frankenkaiser, das Kirchenschiff ist jünger. Weil die Kirche im Schwedenkrieg stark in Mitleidenschaft gezogen wurde (die
Burger Schanze liegt gegenüber).
Man hat aber die alten Steine genommen, um im 18. Jahrhundert eine spätbarocke Saalkirche zu bauen, davon gibt es in Bremen nicht mehr so viele. Rablinghausen,
Use Kark an’ Diek, ist nach dem Krieg restauriert und wiederaufgebaut worden, eine kleine historische Kostbarkeit. Aber auch innen ist die Lesumer
St. Martini Kirche gefällig, kein Vergleich mit dem armen Vetter, der Martinskirche in
Zetel. Obgleich die in ihrer Schlichtheit auch sehr schön ist. Ich habe darin mal schöne Photos von einer schönen Frau gemacht.
Der Vegesacker Friedhof liegt nicht mehr in Vegesack. Nachdem die Gräberstätte in der Kirchheide um die Kirche herum 1873 zu klein geworden war, wurde in der Lindenstraße in Lobbendorf 1876 ein neuer Friedhof angelegt. Das Tor zur Lindenstraße ist noch im Originalzustand. Es gibt ein Grabmal für den Afrikaforscher
Gerhard Rohlfs und ein Ehrengrab für den ehemaligen Bürgermeister,
Dr. Werner Wittgenstein, den die Nazis aus dem Amt gejagt haben.
Es gibt repräsentative Gräber für Werftbesitzer wie die Familie von Johann Lange mit ihrem Marmorengel. Andere Honorationen ziehen unscheinbarere Gräber vor. Der Bremer Familienforschunsgesellschaft MAUS (die seit 1924 existiert), hat Listen aller Gräber im Internet, und es gibt auch eine
Internetseite für den Vegesacker Friedhof. Es gibt auch Tendenzen, ihn zu einer Attraktion innerhalb einer touristischen maritimen Meile zu machen. Ich finde solchen Friedhofstourismus ein wenig morbide und kann der Idee, Friedhöfe zu touristischen Zielen zu machen, nicht so viel abgewinnen (ich weiß, dass der Lokalhistoriker
Thomas Begerow, der viel für den Erhalt historischer Gräber getan hat, das jetzt nicht so gerne hört). Ich bin auch nie auf dem Père Lachaise gewesen. Und die pastorale Stimmung, die
Thomas Grays Elegy, written on a country churchyard auszeichnet, konnte hier nie aufkommen, keine Abendglocken, keine nach Hause ziehenden Herden und Eulen im Mondenschein. Hier klang Tag und Nacht der
Eisenhammer vom Fluss herüber. Der einzig poetische Augenblick waren die Sonnenuntergänge, wenn sich die rote Abendsonne in dem Spinnennetz von Helgen und Kränen verfing. Heute ist es ruhig auf der anderen Straßenseite von Lobbendorf. Die Werft des Bremer Vulkans ist selbst zu einem großen Friedhof geworden.
Ich bin ja schon glücklich, dass sich die Gemeinde endlich besonnen hat, die riesigen Müllbehälter von der Rückseite unseres Familiengrabes zu entfernen. Dafür musste ich im Gegenzug unsere Birke opfern, die nach einem halben Jahrhundert zu groß geworden war. Meine Mutter hat das leider nicht mehr erleben können, dass die Müllbehälter verschwunden sind. Die haben ihr die letzten Lebensjahre vergällt. Zu einer vernünftigen Diskussion war die Gemeinde nicht bereit. Man hätte sie verklagen sollen, aber vor einem solchen Schritt schreckt man dann doch zurück. Man glaubt immer, nur weil dies ein Friedhof ist, der mit Kirche und Gott zu tun hat, seien hier Einsicht, Weisheit und Vernunft zu finden. Aber das sind kleine Verwaltungsspießer, wie sie überall sitzen, eine krude Mischung aus wilhelminischem Untertanengeist und kleinbürgerlichem Größenwahn, wie sie uns Deutsche leider ein Jahrhundert lang auszeichnet.
Opa hat das Grab kurz nach dem Krieg gekauft, er musste natürlich eins ganz vorn bei der Kapelle nehmen, als ob man mit dieser Lage schneller in den Himmel kommt. Die Kapelle ist 1930 von dem Vegesacker Architekten
Ernst Becker-Sassenhof gebaut worden. Diese unterkühlte Schönheit der Bauhausideale kann man heute aber nur noch auf alten Architekturphotos erkennen, da die Kapelle 1958 erweitert und umgebaut wurde. Das hätten sie mal lieber lassen sollen und stattdessen etwas mehr Geld in das orgelähnliche Instrument stecken sollen. Oder in den, der das spielt. Das letzte Mal, als ich da zu einer Beerdigung war, klang die
Aria von Bachs
Goldberg Variationen so, dass Johann Sebastian sie nicht wiedererkannt hätte. Ich hätte den Organisten nicht im voraus bezahlen sollen.