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Dienstag, 17. Juni 2025

17. Juni 1953

 An den 17. Juni 1953 kann ich mich noch erinnern. Noch genau erinnern. Weil ich dieses überdurchnittliche Erinnerungsvermögen geerbt hatte, das Mediziner Hyperthymesie nennen. Mein Blog lebt von diesem Erinnerungsvermögen. Ich kann den Tag in wenigen Sätzen beschreiben: Der 17. Juni 1953 war ein schöner Frühsommertag. Ich spielte auf der Straße, bis der Malermeister Wenzel vorbeikam und sagte Und jetzt kommen die Panzer. Ich wußte nicht, was er meinte und ging ins Haus. Opa saß am Radio. Ich setzte mich zu ihm, und Opa erklärte mir die Welt. Das steht so schon in diesem Blog.


Ich habe gestern bei Google 17. Juni und meinen Heimatort Vegesack eingegeben. Und was sagt mir Googles Künstliche Intelligenz oben auf der Seite? Da steht: Am 17. Juni 1953 kam es in Vegesack, wie in vielen anderen Orten der DDR, zu Protesten und Demonstrationen im Rahmen des Volksaufstands vom 17. Juni. Die Menschen in Vegesack beteiligten sich an den Protesten gegen die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in der DDR und forderten Freiheit und bessere Lebensbedingungen. Ich weiß, dass es in Vegesack am 17. Juni 1953 keine Proteste und keine Demonstrationen gab. Nur den Malermeister Wenzel, der zwei Häuser weiter wohnte und der sagte Und jetzt kommen die Panzer. Vegesack liegt nicht in der DDR, das glaubt nur Googles KI. Google müllt das Internet voll mit solch zweifelhaften Informationen und solchem Quatsch. 

Meine Tageszeitung erwähnt heute den 17. Juni, der einmal unser Nationalfeiertag war, mit keiner Zeile. In meinem Blog war er immer wieder ein Thema. So in den Posts: 17. Juni 195317. Juni 195317. JuniPlebejerSiebzig JahreFreiligrath. Und einen kleinen Lesetipp hätte ich heute auch, nämlich die Rede, die Fritz Stern 1983 im Bundestag hielt.

Montag, 12. Mai 2025

Bildauswahl

Heute wird im Overbeck Museum in Vegesack die Ausstellung „Ist mir eine Ehre!“ – Die Lieblingsbilder unserer Ehrenamtlichen eröffnet. Die Ausstellung geht noch bis zum 10. August. Das Overbeck Museum feiert damit sein 35-jähriges Bestehen. Vorher hatte das Gebäude in der Alten Hafenstraße den Namen KITO. Das ist jetzt kein Tippfehler, es hat nichts mit einer Kita zu tun, hier saß mal eine Verpackungsfirma, die Kisten aus Wellpappe herstellte und die den schönen Namen Kistentod hatte. 

Jetzt ist es ein Museum für die Bilder von Fritz Overbeck und Hermine Overbeck-Rohte und ein Ort für kulturelle Veranstaltungen. Das Packhaus ist um 1800 entstanden, man hat es neuerdings richtig aufgerüscht. Natürlich ist es schön, dass die Bilder von Fritz Overbeck, der ja von Worpswede nach Vegesack gezogen war, einen Platz gefunden haben, an dem sie gut zur Geltung kommen. Es ist viel Licht auf dieser Etage des Speichers, mehr Licht als in manchen Ausstellungsräumen in Worpswede oder Fischerhude. Es ist auch schön, dass aus dem etwas vergammelten Packhaus ein Kulturzentrum geworden ist.

Normalerweise bestimmt die Leitung eines Museums, was an die Wände gehängt wird, aber zum 35. Geburtstag des Museums hat die Direktorin Katja Pourshiraz sich etwas anderes einfallen lassen: Zum 35. Geburtstag des Overbeck-Museums bestimmen unsere Ehrenamtlichen, welche Bilder gezeigt werden. Lieblingsbilder, nahezu Unbekanntes und besondere Schätze – wer schon so viele Stunden ehrenamtlich Aufsicht in den Ausstellungsräumen gemacht hat, der hat zu manch einem Kunstwerk von Fritz Overbeck oder Hermine Overbeck-Rohte eine besondere Beziehung und kann etwas darüber erzählen. Deshalb sind den Bildern kurze Texte unserer Ehrenamtlichen zur Seite gestellt, die erzählen, was dieses Werk für sie persönlich bedeutet. Das kann man so machen, da hat jeder etwas davon. Meine beiden Overbecks sind noch bei mir im Wohnzimmer, aber eines Tages werden sie auch diesem Museum gehören, das habe ich schon ins Testament geschrieben.

Als ich die Sache mit der Bildauswahl durch die sechzig Ehrenamtlichen las, fiel mit eine kleine Geschichte ein, die ich in dem Post Russen hätte erzählen können, aber nicht erzählt habe. 1986 präsentierte der Kieler Kunsthallendirektor Jens Christian Jensen aufsehenerregende Neuerwerbungen: Malerei des 19. Jahrhunderts aus Russland und Polen. Erworben aus der Sammlung Georg Schäfer, zu der Jensen im Ruhestand als Kurator wechselte. Berater war er in Schweinfurt schon lange. Die Kunsthalle Kiel war plötzlich das einzige öffentliche Museum in der Bundesrepublik, das russische Malerei besaß. Das ist ungewöhnlich, von der russischen Malerei des 19. Jahrhunderts weiß man ja meistens nicht so viel, von der russischen Literatur schon. Dieses Bild von Iwan Kramskoj war wahrscheinlich das berühmteste Bild aus der Sammlung russischer Malerei. Das Bild der Dame, die von vielen für Anna Karenina gehalten wurde, hat hier schon den Post la belle inconnue.

Jensen, der erste hauptamtliche Direktor der Kunsthalle, hatte durch seine Tätigkeit das verschlafene Kiel aus der Regionalliga in die Champions League der Kunsthallen gebracht. Seine Nachfolger werden dafür sorgen, dass die Kunsthalle Kiel wieder Kreisklasse wird. Einer dieser Direktoren, der auch den schlechtesten Katalog der Kunsthalle zu verantworten hat, war darauf aus, immer in der Presse zu sein oder vor den Kameras des Regionalfernsehens aufzutreten. Und so behängte er die Außenwand der Kunsthalle mit 999 türkischen Fahnen und machte eine Ballermann Ausstellung, Bei der Ramona Drews, die Gattin des Königs von Mallorca, ihre Gemälde aufhängen durfte. Durch diese ganzen Remmidemmi Aktionen wurde die ständige Sammlung ein klein wenig vernachlässigt.

Und nun kommt eines Tages eine hochrangige Delegation russischer Kunstwissenschaftler und Direktoren der Eremitage nach Kiel. Die wollen gerne sehen, wie ihre russische Malerei, die es nur hier in Kiel gibt, gehängt worden ist. Ein legitimer Wunsch. Aber der Direktor kann den russischen Gästen die Bilder nicht zeigen. Nicht Iwan Kramskojs elegante Dame und auch nicht Isaak Iljitsch Lewitans schönes Bild Der stille Weg. Er bereite gerade eine ganz sensationell neue Ausstellung vor, sagt er den russischen Gästen. Bei dieser Ausstellung dürfen die Angestellten der Kunsthalte und die Hilfskräfte bestimmen, was an die Wände kommt. Die russische Delegation, die sich ein halbes Jahr zuvor angemeldet hatte, ist etwas konsterniert. Aber da sagt der Leiter der Delegation: Herr Direktor, ich gratuliere Ihnen. Lenin hat einmal gesagt, wenn meine Sekretärin an meinem Schreibtisch alles machen kann, was ich mache, dann ist der Höhepunkt des Kommunismus erreicht. Sie, Herr Direktor, haben jetzt den Höhepunkt des Kommunismus erreicht. Schöner geht Ironie nicht.

Noch mehr Overbeck in den Posts: Fritz OverbeckIch bin nicht sentimentalGrünkohlWorpswedeWuddelHafenstraße

 

Bremen, 8. Mai 1945

Heute vor achtzig Jahren war der Zweite Weltkrieg zu Ende. Vor vierzig Jahren sagte der Bundespräsident Richard von Weizsäcker in einer Feierstunde im Plenarsaal des Bundestags: Wir Deutsche begehen den Tag unter uns, und das ist notwendig. Wir müssen die Maßstäbe allein finden. Schonung unserer Gefühle durch uns selbst oder durch andere hilft nicht weiter. Wir brauchen und wir haben die Kraft, der Wahrheit so gut wir es können ins Auge zu sehen, ohne Beschönigung und ohne Einseitigkeit. Der 8. Mai ist für uns vor allem ein Tag der Erinnerung an das, was Menschen erleiden mußten. Er ist zugleich ein Tag des Nachdenkens über den Gang unserer Geschichte. Je ehrlicher wir ihn begehen, desto freier sind wir, uns seinen Folgen verantwortlich zu stellen. Sie können die ganze Rede hier lesen. Es lohnt sich auch nach viezig Jahren, das einmal zu tun.

1985 konnten sich viele, die die Schrecken des Krieges und der Verfolgung erfahren hatten, noch genau daran erinnern. Die Geschichten bleiben im Kopf. Wie meine Mutter ihre Schwiegermutter mit Gustav seinem kleinen Laster aus dem Feuersturm von Hamburg herausgeholt hat. Und die ist für die Heldentat ihrer Schwiegertochter gar nicht richtig dankbar gewesen und hat die ganze Autobahn bis Bremen lang nur geheult, wollte immer wieder zurück nach Hamburg. Nach dem, was davon übrig war. Man will immer zurück in die Heimat. Aber viele haben in diesen Tagen ihre Heimat und ihr Zuhause verloren. Viele Väter sind gefallen oder sind Kriegsversehrte wie mein Vater. Viele Familien beklagen Tote. Die erste Liebe meiner Mutter, ein Unteroffizier namens Hans Bünte, gefallen 1940 vor Rotterdam, ihr Cousin Hans vor Leningrad. Vatis Bruder irgendwo in Russland. Tante Margrets Neffe Georg, Hauptmann der Reserve, bei Tscherkassy, kurz nachdem er das Ritterkreuz gekriegt hatte. Omas junger Cousin Ludwig in Nordfinnland, Werners Bruder in Lyon. Sie liegen verstreut über Europa, die Familien wären glücklicher, wenn sie wüssten, wo die Gräber sind. 

Wenn meine Oma Johanna den Kinderwagen nicht in den Graben gekippt hätte und hinterher gesprungen wäre, als der englische Tiefflieger die Straße mit dem MG beharkte, wäre ich nicht auf der Welt. Er wollte wahrscheinlich nicht meine Oma und mich treffen, sein Ziel war wohl die Brücke über den Mittellandkanal. Oder wusste der Pilot, dass wenige Kilometer von hier zwei seiner Kameraden, die mit ihrer Spitfire notgelandet waren, von der Dorfbevölkerung umgebracht worden waren? Man vergisst das alles nicht, auch wenn man vieles vergessen wollte. Wir reden von unserem Leiden, aber nicht von unserer Schuld. Der gerade gewählte Bundespräsident Theodor Heuss tat das schon 1949: Wir dürfen nicht vergessen die Nürnberger Gesetze, den Judenstern, den Synagogenbrand, den Abtransport von jüdischen Menschen in die Fremde, ins Unglück, in den Tod. Das sind Tatbestände, die wir nicht vergessen sollen.

Ein gewisser Björn Höcke war damals noch nicht geboren, er war zwölf Jahre alt, als Weizsäcker seine Rede hielt. Heute verkündet der vom Schuldienst beurlaubte Sportlehrer, dass Weizsäckers Rede zum 8. Mai 1945 eine Rede gegen das eigene Volk und nicht für das eigene Volk war. Er sprach in seiner Rede auch von einer dämlichen Bewältigungspolitik, die uns heute angeblich lähmt. Und er hat auch noch gesagt: es sind nur willensstarke Menschen, die Geschichte schreiben, und das wollen wir tun. Liebe Freunde, die Bundespräsidenten dieser Republik, die haben keine Geschichte geschrieben, und sie haben sehr wenig bedeutsame Reden gehalten. 

Und was war mit der Rede, die Theodor Heuss 1952 in Bergen-Belsen gehalten hat? Wer hier als Deutscher spricht, muss sich die innere Freiheit zutrauen, die volle Grausamkeit der Verbrechen, die hier von Deutschen begangen wurden, zu erkennen, hat er gesagt. Und er fügte den für die damalige Zeit unglaublichen Satz hinzu: Wir haben von den Dingen gewusst. Die Höckes und Gaulands dieser Welt werden keine Geschichte schreiben. Nicht mal eine Fußnote. Auch nicht diese Alice Weidel, die uns erzählen will, dass Hitler ein Linker war. Für sie ist der 8. Mai immer noch ein Tag der Niederlage des eigenen Landes. Die AfD spricht heute von deutschem Leid und alliierten Kriegsverbrechen, ein verzweifelter Versuch, die Geschichte umzuschreiben. 

Theodor Heuss hatte die Problematik des Gedenktages früh erkannt: Im Grunde genommen bleibt dieser 8. Mai 1945 die tragischste und fragwürdigste Paradoxie der Geschichte für jeden von uns. Warum denn? Weil wir erlöst und vernichtet in einem gewesen sind. Es hat ja Jahre gedauert, bis man nicht mehr von einer Niederlage, sondern wie Weizsäcker von einem Tag der Befreiung redete. In seinem Brief an meine Söhne schrieb Heinrich Böll 1984: Ihr werdet die Deutschen daran erkennen können, ob sie den 8. Mai als Tag der Niederlage oder Befreiung bezeichnenDer lange Schatten des Nationalsozialismus hieß das Buch, das der Historiker Reinhard Rürup vor zehn Jahren veröffentlichte, die Höckes und Weidels leben immer noch im Schatten.

Mein Vater trug beim Kriegsende keine Uniform mehr. Die Wehrmacht hatte den Leutnant der Reserve mit sieben Durchschüssen und Granatsplittern im Körper schon etwas früher nach Hause geschickt. Das Eiserne Kreuz hatten sie ihm noch mitgegeben. Als der Krieg wirklich zu Ende war, ist mein Opa von Bad Essen, wo wir untergekommen waren, nach Vegesack marschiert. Er wollte sehen, ob sein Haus in der Weserstraße noch stand. Im Ersten Weltkrieg war er Hauptmann in der Armee seines Kaisers gewesen. Jetzt war er fünfundsechzig und nicht mehr so gut zu Fuß mit seinen Schnürstiefeln. Für die Strecke von mehr als hundertzwanzig Kilometern hat er beinahe eine Woche gebraucht. Irgendwo zwischen Ritterhude und Lesum hat er auf dem Lesumdeich einen Bekannten getroffen und ihn nach der Lage in Vegesack befragt. Der hat ihm gesagt, er solle bloß wieder umkehren, nach Vegesack käme niemand mehr rein. Schon gar nicht in die Weserstraße, die hätten die Amerikaner besetzt. Und den Hof von Redeker hätten sie mit Stacheldraht eingezäunt und zum Gefangenenlager gemacht. Aber ihr Haus steht noch, Herr Lehrer, sagte der Mann, der einmal, wie so viele im Ort, Opas Schüler gewesen war. Mein Opa marschierte nach Bad Essen zurück.

Als die 43. Wessex Division (die zum XXX Corps von General Sir Brian Horrocks gehört) im April 1945 kommt, sind in Bremen alle Weserbrücken gesprengt. Die letzten beiden Brücken hat der Kampfkommandant am 25. April um 11.30 sprengen lassen. Den Tag davor hatte es noch zwei Luftangriffe gegeben. Das waren die Angriffe Nummer 172 und 173 auf die Stadt. Es waren die letzten in diesem Krieg. Am Nachmittag heulten die Luftschutzsirenen noch ein letztes Mal, das 1.233. Mal in diesem Krieg, aber es hatte keinen Angriff mehr gegeben. Als die Große Weserbrücke (die damals Lüderitzbrücke hieß) und die Kaiserbrücke gesprengt werden, hat die 52. Lowland Division schon Hemelingen erreicht und steht da, wo die Borgward Werke sind (wo heute das Daimler Benz Werk ist).

Ich besitze eine Zeichnung von dem Bremer Maler Emil Mrowetz, die er einmal meinem Vater geschenkt hat. Sie ist signiert Zerstörte alte Weserbrücke 1945. Nur das Brückenportal mit den beiden Löwen, die das Bremer Stadtwappen halten, ist unversehrt. Dahinter sind nur noch von den Explosionen der Sprengung aufgebogene Stahlträger zu sehen. Aber die Alte Weserbrücke interessiert den Generalleutnant Brian Horrocks (der in dem Film A Bridge too Far von Edward Fox gespielt wird) wenig. Die Engländer sind schon längst in Hoya über die Weser gekommen, also da unten, wo ich mit der Bundeswehr zwanzig Jahre später Weserübergänge üben darf. Seit Karl dem Großen sind Weserübergänge für Armeen nicht aus der Mode gekommen.

Der Kampfkommandant der Hansestadt, der erst seit drei Wochen in Bremen ist und die Stadt nicht kennt, glaubt aus unerfindlichen Gründen, die Engländer würden bei Vegesack die Fähre über die Weser nehmen. Da sind zwar Engländer, die von Zeit zu Zeit unseren Ort beschießen (und das auch noch über die offizielle →Waffenruhe vom 27. April hinaus), aber die bleiben erst einmal in Lemwerder. Besetzen den Flughafen und sichern sich die letzten Ju 87 Sturzkampfbomber, die die Weserflug da gebaut hatte. Die Masse der englischen Armee hatte längst einen anderen Weg genommen. Die Überschwemmungsgebiete links der Weser zwischen Huchting und Dreye haben die Schotten und Engländer der 3. Division nicht aufhalten können. Am Mittag des 25. April haben sie schon den Flugplatz Neuenlander Feld erreicht. Seit der Landung in der Normandie hat die 3. Division (die Wellington einst begründete) 2.586 Tote und über 12.000 Verwundete zu beklagen. Bei Waterloo waren es weniger.

Zum ersten Mal seit der General Tettenborn Bremen von den Franzosen befreit hat, sind wieder fremde Soldaten auf Bremer Boden. Der Kampfkommandant von Bremen ist in den letzten Kriegswochen ein Generalleutnant namens Fritz Becker, der unter extremem Wirklichkeitsverlust leidet. Er will in seinem Hauptquartier im Haus des Werftdirektors Franz Stapelfeldt (Parkallee 95) Bremen bis zum letzten Mann und bis zur letzten Patrone verteidigen. Das hatte der Gauleiter Paul Wegener befohlen, aber der hat sich schon nach Flensburg zu Dönitz abgesetzt. Militär und Nazis sitzen in Bremens feinster Gegend. Das vornehme Schwachhausen ist kaum bombardiert worden. Den Bomben zum Opfer fallen die Arbeiterviertel neben den Werften an der Weser. Von dem Haus in Walle, wo mein Vater und Oma vor dem Krieg gewohnt haben, ist bis auf die Grundmauern nichts übrig geblieben.

Währenddessen radeln Bremer Senatoren mit dem Fahrrad den Engländern entgegen, um die Übergabe der Stadt vorzubereiten. Die Ecke beim Bunker, wo der Bürgerpark an den Stern und die Hollerallee angrenzt, haben die ersten englischen Truppen von der Somerset Light Infantry den Hyde Park Corner genannt. Der Stellvertreter Beckers, ein Generalmajor Werner Siber, der im Bunker gegenüber der Benquestraße sitzt, ergibt sich als erster mit seinem Stab (zwei Fußballmannschaften stark) den Engländern. Der Boden des kleinen Bunkerraums, in dem sie hocken, ist übersät mit leeren Sektflaschen.

Einige deutsche Offiziere und der Präses der Handelskammer Karl Bollmeyer wollen den starrsinnigen General Fritz Becker in der Stapelfeldt Villa erschießen. Aber das verbietet ihnen die Hausherrin, deren Ehemann gerade erst aus der Gestapo-Haft in sein Haus zurückgekehrt ist: Machen Sie das irgendwo, wo Sie wollen, aber nicht in unserem Haus. Es kommt leider nicht dazu. Obwohl die englischen Panzer schon den Sielwall auf und ab fahren, will der Ritterkreuzträger Becker offiziell immer noch nicht kapitulieren. Er ist inzwischen in den Bunker der 8. Flakdivision an der Einmündung der Emmastraße in die Parkallee umgezogen.

Es bleibt ihm dann aber nichts anderes übrig, als sich zu ergeben. Am frühen Morgen des 27. April holt ihn das Wiltshire Regiment aus seinem Bunker. General Fritz Becker wird sich mit dem Hitlergruss in die englische Gefangenschaft verabschieden. Kein Stil. Kein Bremer. Wie die Bundeswehr 1967 auf die bescheuerte Idee kommen konnte, diesem Mann ein Ehrenbegräbnis auszurichten, kann ich bis heute nicht verstehen. Aber es ist die Zeit, in der sich die Armee mit einem konservativen backlash von Baudissins Idealen der Inneren Führung verabschiedet. Der General Brian Horrocks wird in Bremen zum ersten Mal einen Eindruck davon bekommen, welche →Auswirkungen die 173 Bombenangriffe der Alliierten gehabt haben. Dass das Ergebnis so fürchterlich aussieht, hat er sich nicht vorstellen können. Harry Ditton, der britische Korrespondent der News of the World, schrieb in seinem Bericht vom 29. April 1945: Bremen war und ist verschieden von allen anderen deutschen Städten, die wir eingenommen haben. Sein Todeskampf war viel schwerer. Es hatte sich entschieden, sich gegen sein Schicksal zu wehren.

Horrocks' Mitleid hält sich allerdings in Grenzen, wenn er drei Tage später bei der Befreiung des Kriegsgefangenenlagers Sandbostel nördlich von Bremen auf KZ-ähnliche Verhältnisse trifft. Die englische Armee befreit beinahe 50.000 halbverhungerte Gefangene. Nach Sandbostel waren im April auch Häftlinge aus dem →KZ-Außenlager Farge, die dort den U-Boot Bunker und beim Bremer Vulkan die U-Boote bauten, gebracht worden. Von den etwa 9.000 Häftlingen, die Sandbostel erreichten, starben bis zur Befreiung des Lagers etwa 3.000 an Unterernährung, Krankheiten und Erschießungen durch die SS.

Sir Brian Horrocks, der im Ersten Weltkrieg Kriegsgefangener der Deutschen (und der Russen) war, wird in seiner sehr lesenswerten Autobiographie A Full Life über seinen Schock im Lager Sandbostel schreiben. Davon haben die deutschen Generäle Siegfried Rasp vom Korps Ems und Ernst Busch von der Heeresgruppe Nordwest, die sich Horrocks am 3. Mai ergeben, natürlich nichts gewusst. Das ist jetzt eine gefährliche Krankheit, diese Ahnungslosigkeit, die sich unter deutschen Militärs und Politikern geradezu epidemisch ausbreitet. Je mehr Sterne man auf der Schulter hat, desto weniger hat man gewusst. Der Feldmarschall Ernst Busch, einer der treuesten Anhänger Hitlers, wird wenig später in englischer Gefangenschaft an gebrochenem Herzen sterben.

Horrocks ist dann mit seinem XXX Corps von Sandbostel nach Cuxhaven vorgestoßen. Er hätte Hamburg einnehmen können, aber das darf er nicht, das will Montgomery mit seiner 21st Army Group selbst erobern. Irgendwie schien Horrocks sich da oben im Land Wursten zu langweilen. Er ist von Cuxhaven aus nach Helgoland gefahren, um sich den traurigen Rest der Insel nach dem Bombardement der Royal Air Force vom 18. April 1945 anzugucken (das Photo ist aus dem Jahre 1952, als die Engländer die Insel zurückgaben). Da die Royal Navy Cuxhaven noch nicht eingenommen hatte und kein englisches Kriegsschiff zur Verfügung stand, fuhr er mit einem deutschen Schnellboot, das bei Lürssen in Vegesack gebaut worden war. Ein Jahrzehnt später durfte Lürssen die Dinger dann wieder für die Bundesmarine bauen.

Da man für den Ausflug von Horrocks keine englische Kriegsflagge auftreiben konnte, geschah das Ganze unter deutscher Flagge. Die letzte Aktion der deutschen Kriegsmarine. Und dann muss sich der deutsche Kapitänleutnant noch von einem englischen General sagen lassen, dass die vier Begleitboote keine exakte Formation halten könnten (auf der Rückfahrt konnten sie es). Nach dieser letzten Fahrt unter deutscher Flagge durfte die deutsche Marine Minen räumen. Da hatten sie zwar englische Flaggen, durften aber noch ihre alten blauen Marineuniformen tragen. Allerdings ohne das Hakenkreuz.

Zur Überraschung der Bremer blieben die Engländer nicht in Bremen. Denn am 27. April, dem Tag, an dem in Bremen der Krieg offiziell zu Ende war, kommen auch die ersten Amerikaner an. Die Amerikaner wollten die Stadt (Bremerhaven als Port of Embarcation inklusive) als Nachschubbasis für ihre Truppen in Deutschland haben. Am Montag, dem 30. April (dem Tag, an dem sich Hitler erschoss), musizierte noch eine schottische Militärkapelle mit ihren Dudelsäcken auf dem Markt, am nächsten Tag wurden aber schon die ersten amerikanischen Flaggen an offiziellen Gebäuden gesehen. Und das Bremer Rathaus wird zu einer Bierhalle für die amerikanische Armee: GI Joe's Number 1 (die Vegesacker Strandlust wird GI Joe's Number 2).

Mit dem Einzug der Amerikaner wurde die Stadt zur Amerikanischen Enklave, die wenigen Autos, die den Krieg überlebt hatten, bekamen 1946 die Autonummer AE. Meine Mutter hatte ihr kleines Auto, auf das sie so stolz war, bei Kriegsbeginn auf der Bürgerweide, wo heute der Bremer Freimarkt stattfindet, abstellen müssen. Sie bekam eine gestempelte Quittung, aber den Wagen hat sie nie wiedergesehen.

Alles um Bremen herum war unter englischer Verwaltung und hieß jetzt Britisch Niedersachsen (Autonummer BN). Also Lemwerder zum Beispiel, wo die Yachtwerft von Abeking & Rasmussen war. Als ein amerikanischer Offizier, der begeisterter Segler war, 1945 entdeckte, was da auf der anderen Weserseite war, hat er die ganze Werft erstmal mit Off Limits und Out of Bounds Schildern zugepflastert. Und alle Yachten für recreational purposes beschlagnahmt. Die Engländer, die das gleiche vorhatten, kamen einen Tag zu spät. Die hatten natürlich auch jemanden, der ein Exemplar von Uffa Fox’ Buch über Segelboote besaß. Die Amerikaner werden übrigens eines Tages alle beschlagnahmten Boote zurückgeben. Bis auf eins. Angeblich von Engländern geklaut.

Obgleich die Engländer eigentlich schon genügend Segelboote besaßen. General Horrocks hatte nämlich bemerkt, dass alle Segelyachtbesitzer ihre Boote in den kleinen Nebenflüssen der Weser versteckt hatten, die jetzt alle unter englisches Hoheitsgebiet fielen. Er hat alle requiriert, die Hälfte davon musste er allerdings willy nilly später an die Royal Navy abgeben. Die wollten auch segeln. In Kiel war das ähnlich, die Engländer richteten im Kieler Yacht Club ihre erste Kommandantur ein und tauften den Club in British Kiel Yacht Club um, und beschlagnahmten alle Segelyachten. Hermann Görings Yacht Flamingo (auch bei Abeking & Rasmussen gebaut) werden sie erst 2016 bei ihrem Abzug von der Förde zurückgeben.

Meine Mutter hat es den amerikanischen Besatzern nie verziehen, dass sie das Meißner Porzellan geklaut und das Klavier aus dem Fenster geworfen haben. Der Rahmen des Klaviers ist zwar geschweißt worden, aber es klang danach immer etwas schräg. Aber unser Haus in der Weserstraße hatte außer kleineren Bombenschäden am Dach den Krieg überstanden, und als eines Tages die amerikanischen Besatzer das Haus räumten, hatten wir und der Rest der Familie wieder eine eigene Bleibe. Wenn auch ohne das Meißner Porzellan. Hunderttausende waren nicht so glücklich wie wir.

Am 8. Mai 1945 ist der Zweite Weltkrieg zu Ende gegangen. Für den Bremer Lokalhistoriker Herbert Schwarzwälder ist das in einem Ausblick betitelten Kapitel seiner vierbändigen Geschichte der Freien Hansestadt Bremen keine Befreiung gewesen. Bei aller Faktenhuberei, die sein Werk charakterisiert, ist sein Band IV Bremen in der NS-Zeit (1933-1945) doch eine zweifelhafte und letztlich klägliche Sache. Sehr viel besser ist da das Buch Bremen im Dritten Reich: Anpassung - Widerstand - Verfolgung von →Inge Marßolek und René Ott. Keine Geschichte der Gauleiter wie bei Schwarzwälder, sondern eine Geschichte von unten. Die Historiker haben es versäumt, rechtzeitig alles aufzuschreiben. So in der Art von Tom Harrissons Mass Observation in England.

Meine Jugend war das Nachkriegsdeutschland, waren Ruinen, gerettete Photoalben und viele Erzählungen. Alle erzählten vom Krieg. Wenige von der Zeit vorher. Was wäre das für ein Material gewesen, wenn ein Historiker das damals aufgeschrieben hätte! Später in der Oberschule hatte dieser Krieg, dessen Auswirkungen wir alle noch kannten, beinahe nicht stattgefunden. Da gab es den Punischen Krieg, da lasen wir Caesars De Bello Gallico, aber das Kriegsende in Bremen war kein Thema des Unterrichts. Viele Lehrer erzählten uns in den fünfziger Jahren ihren Krieg, sie mussten den Schrecken abarbeiten, dem sie in ihren besten Jahren ausgeliefert waren. Aber niemand sprach von den siebzigtausend Zwangsarbeitern, die die →U-Boote beim Bremer Vulkan und den U-Boot Bunker in Farge gebaut hatten, die an Unterernährung, Entkräftung und Misshandlung gestorben waren. In einem kleinen Birkenwäldchen bei Eggestedt, das wie eine Landzunge in die Äcker hineinreichte, sind manche von ihnen beinahe anonym begraben. Mit Grabkreuzen in kyrillischer Schrift. Die Geschichte ist nicht nur in Büchern zu finden, sie schreibt sich auch in die Natur ein. Da ist sie nur schwer zu lesen.

Meine Cousine Hannelore hat mir vor Jahren ein kleines Büchlein geschenkt, wofür ich ihr ewig dankbar bin. Es heißt Kriegsende 1945: Vegesack und umzu und enthält Erinnerungen, die von den Bewohnern des Ortes aufgeschrieben worden waren. Ich habe beinahe alle, die hier schrieben, noch gekannt. Manches davon kann man nicht glauben, weil es nicht wahr ist. Wie zum Beispiel der Direktor des Bremer Vulkans, der vormalige Wehrwirtschaftsführer Robert Kabelac, der sich hier persilrein wäscht. Aber das meiste ist völlig ehrlich. Unverfälscht und unredigiert, so wie jeder dachte und es erlebt hatte. Ich wollte, es gäbe mehr von solchen Büchern. Man wünschte sich auch im Internet mehr solcher Texte wie diesen →hier oder →diesen. Aber stattdessen findet man im Internet den Krieg, das Militär und die Nazis verherrlichende Seiten bis zum Abwinken. Was Walter Kempowski mit seinem Echolot angestoßen hat, war schon die richtige Idee. Was →Guido Knopp im ZDF serviert hat, sicherlich die falsche. Es ist neuerdings chic geworden, von Erinnerungskultur zu reden. Ich finde das ein fürchterliches Wort. Wir sollten einfach nicht vergessen. Punkt, Ausrufezeichen. Oder, wie es in Kiplings Recessional heißt: Lord God of Hosts, be with us yet, Lest we forget—lest we forget!

Montag, 17. Februar 2025

Bremen wes bedächtig

Man schnappt Sprüche und Sätze auf, wenn man jung ist. Und behält sie fürs Leben. Was'n in Bremen so sacht un wo ein fein auf hören muß. Der Satz könnte von mir sein, ist aber schon ein Buchtitel. Ich meine jetzt nicht Sätze wie Ischa Freimaak oder Roland mit de spitze Knee, seg mal, deit di dat nich weh? Ich meine Bedeutungsschweres wie Buten un binnen, Wagen un Winnen und diesen Satz, der mit Bremen wes bedächtig anfängt. Den Roland, der hier schon den kulturhistorischen Post Charlemagne hat, lassen wir jetzt mal weg. Beim Freimarkt bekommt der regelmässig ein Lebkuchenherz mit Ischa Freimaak verpasst. Den Satz Buten un binnen, Wagen un Winnen hat der Bürgermeister Otto Gildemeister gedichtet, das steht seit 1899 auf einer Tafel am Schütting, dem Sitz der Kaufmannschaft.

Aber was bedeutet dieser Satz Bremen wes bedechtich, lat nich mer in, du seist ihrer mechtich? Wen soll man nicht in die Stadt lassen? Sind das Zuzugsrechte? Ausländer raus? Der Satz ist alt, ganz alt. Wir müssen einige Jahrhunderte zurückgehen, um ihn zu verstehen. Zurück ins 16. Jahrhundert. Der Satz hat etwas mit Holland zu tun, das 1526 der größte Handelspartner Bremens ist. Aber aus Holland kommen nicht nur Waren in die Hansestadt, aus Holland kommt auch Heinrich von Zütphen, der die Reformation nach Bremen bringt. Nachdem er auf der Durchreise in Bremen eine Predigt gehalten hat, lädt man ihn ein, in Bremen zu bleiben. Man weiß nicht mehr, was er predigte, aber man kennt das Datum: es war der 9. November 1522. Wieder einmal so ein Schicksalstag dieser 9. November. Zütphen zieht nach einiger Zeit weiter und wird in Holstein ermordet. Aber die Reformation ist da und mit ihr die Glaubenskämpfe zwischen Lutheranern und Reformierten, die sich gegenseitig aus der Stadt vertreiben wollen. Es ist wieder ein Holländer namens Albert Rizäus Hardenberg, der Domprediger wird und den Rat spalten wird. Einen Bildersturm haben wir auch gehabt, dafür wird Christoph Pezel sorgen. Der ehemalige Direktor des Focke Museums und Bremer Landesdenkmalpfleger Werner Kloos führt das Kunstbanausentum der Bremer auf den Bildersturm von Pezel zurück: Die Verarmung des bremischen Kunstbesitzes rührt aus jener Zeit, jedoch auch eine gewisse allgemeine Gleichgültigkeit gegenüber den Werten künstlerischer Aussage.  Zu diesem Thema steht schon viel in dem Post Bremer Klausel. Es ist ein religiöser Kampf, der erbittert geführt wird, Bremen wird deshalb auch aus der Hanse ausgeschlossen. Die Formen, die der Kampf in Münster annahm, wo man die Leichen der Wiedertäufer Jan van LeidenBernd Knipperdolling und Bernd Krechting am Turm von St. Lamberti aufhängte, hat er in Bremen aber nicht angenommen.

Der Satz, dass Bremen bedächtig sein soll, steht auf einem Wappenstein aus dem Jahre 1562, den der Bremer Bürgermeister Daniel von Büren, der in Wittenberg bei Martin Luther und Philipp Melanchthon studiert hatte, am Herdentor hat setzen lassen. Es ist ein fremdenfeindlicher Stein.1562 haben die Reformierten gesiegt. Diese Stein sagt auf gehässige Weise den Lutheranern Tschüss. Ein großer Teil der lutherischen Ratsmitglieder, fünf Pfarrer und drei Bürgermeister verließen die Stadt, vermoegende und ansehenliche luide. Durch die diplomatischen Bemühungen von Bürens kommen die vertriebenen Lutheraner 1568 nach Bremen zurück. Sie werden siebzig Jahre später den Dom (dank Friedrich von Dänemark) als Pfarrkirche erhalten, der Rest von Bremen gehört den Reformierten. Bremens Bürgermeister Johan Smidt, hat sich, als er mit Boehlendorff nach Italien reiste, noch schnell in der Schweiz calvinistisch ordinieren lassen. Smidt ist im 19. Jahrhundert immer noch da, wo man im 16. Jahrhundert war. Er hasst die Lutheraner und die Juden und wird es noch schaffen, bis zum Jahre 1830 der lutherischen Domgemeinde den Status einer Gemeinde (inklusive ihres Vermögens und Grundbesitzes) vorzuenthalten. 

Meinen Heimatort Vegesack betraf das alles nicht. Zum dreihundertsten Jahrestag der Reformation am 31. Oktober 1817 schlossen sich da Reformierte und Lutheraner nach preußischem Vorbild zu einer Gemeinde zusammen: ein Gott, ein Christus, eine Gemeinde steht über der Tür der klassizistischen Kirche. Aber das war kein Vorbild für den Rest Bremens, 1840 und 1845 gab es wieder einen Kirchenstreit. Das, was zur Zeit von Daniel von Büren begonnen hatte, dieser Streit zwischen Reformierten und Lutheranern, geht durch Jahrhunderte weiter. Niemand ist dabei bedächtig. Bei der Gründung der Bundesrepublik wird man deshalb die Bremer Klausel ins Grundgesetz schreiben, damit es einen bekenntnisfreien Religionsunterricht geben kann. 

Der Wappenstein mit dem Bremen wes ghedechtich  late neict mer in dv beist öhrer mechtich anno domini 1562 ist heute im Focke Museum zu sehen. Repliken davon sind an einigen Bremer Schulen angebracht. Es gibt beim Bremer Weser Kurier auf der Seite WK Geschichte eine interessante Seite zu dem Wappenstein. Das war früher der Blog Bremen History, der leider eingegangen ist, aber jetzt beim Weser Kurier eine neue Heimat gefunden hat.

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Montag, 27. Januar 2025

Otto & Sohn


Den Kalender links auf dem Bild hat mir meine Cousine Hannelore zu Weihnachten geschenkt. Er enthält Bilder aus dem Buch Vegesack - Leben am Fluss in den 50er und 60er Jahren, das der Buchhändler Martin Marder und Kai Rücker, der Sohn des Photographen Helmut Schröder zusammen gestaltet haben. Es ist exklusiv bei der Buchhandlung Otto & Sohn in Vegesack erhältlich. Dass dieses Buch im Entstehen war, weiß ich, weil mir Martin Mader (der schon mehrfach in diesem Blog erwähnt wurde) einige Photos aus den fünfziger Jahren geschickt hatte, die ich noch nie gesehen hatte. 

Das Buch mit den nostalgischen Photos wird das letzte Buch der Firma Otto & Sohn sein, die vor vier Jahre Fritz Theodor Overbecks Büchlein Vegesack Du schönes Städtchen wieder aufgelegt hatte. Im Sommer des Jahres wird Martin Mader die Buchhandlung in der Breiten Straße, die es seit achtundneunzig Jahren gibt, schließen. Als Mader die Buchhandlung 1992 übernahm, war sie schon nicht mehr im Familienbesitz der Ottos. Aber es gab damals noch eine Buchhandlung Otto im Ort, nämlich die von Conrad Claus Otto. Das Adreßbuch für den deutschsprachigen Buchhandel vermerkte 1958, dass es hier zu Verwechslungen kommen könnte. Die Buchhandlung von C.C. Otto habe ich schon in dem Post Catch-22 erwähnt. Der junge Conrad Claus Otto (1931-2007) hatte 1955 in der Bismarckstraße (die heute Sagerstraße heißt) eine ganz andere Buchhandlung aufgemacht, die beste des Ortes. 

Es war eine erstaunliche Buchhandlung für so ein kleines Nest wie Vegesack, sie lebte natürlich von der Persönlichkeit des jungen Buchhändlers. Der auch noch die schönste Frau unserer Schule geheiratet hatte, kaum dass die achtzehn war. Sie hatten sich bei den Proben zu Hindemiths Oper Die Harmonie der Welt kennengelernt, bei denen unser Schulchor mitwirkte (wie sie hier lesen können). Seine Frau Doris hat aus Liebe zu ihm in Lübeck eine Buchhändlerausbildung gemacht. Conrad Claus Otto war für Bremen-Nord so etwas wie Eckart Cordes in Kiel, obgleich der Kieler Kulturpreisträger vielleicht noch mehr berühmte Autoren in seine Buchhandlung gelockt hat als Conrad Claus Otto in seine. Aber immerhin hatte er 1980 zum 25jährigen Bestehen der Firma Walter Kempowski als Gast. Doris Otto hat nach seinem Tod den Laden, der inzwischen in die Gerhard Rohlfs Straße umgezogen war, noch fünf Jahre weitergeführt, aber dann musste sie ihn schließen. 
 

Die Familie Otto war seit 1860 in Vegesack im Geschäft mit Büchern und Papier. Da hatte nämlich der Buchbinder Christoph Christian Otto (1831-1902) am Kleinen Markt in der Bahnhofstraße eine Buchbinderei, Papier- und Buchhandlung eröffnet. Die Bahnhofstraße, in der mein Opa mal wohnte, als er am Anfang des Jahrhunderts in den Ort kam, heißt heute Reeder Bischoff Straße; der Kleine Markt heißt heute Botschafter Duckwitz Platz. Benannt nach Georg Ferdinand Duckwitz, der hier schon in dem Post Arnold Duckwitz erwähnt wird. Die Postkarte ist hundert Jahre alt, Bäume gibt es da heute nicht mehr auf dem kleinen Platz, jetzt gibt es da einen Marktbrunnen. Die Buchhandlung, die noch bis Anfang der siebziger Jahre bestand, ist da irgendwo links auf dem Bild. Neben dem Uhrmacher Hugo Molgedei, bei dem meine Eltern mir meine Tissot Seastar gekauft haben. Ganz links, hier nicht mehr auf dem Bild, wohnte meine Tante Cilly.

Christoph Christian Ottos Sohn Albert (1905-1984) übernimmt von seinem Vater die Buchhandlung am Kleinen Markt, er wird sie bis in die 1970er Jahre behalten. 1960 gönnt sich die Firma zum hundertjährigen Bestehen noch eine kleine Festschrift. C.C. Ottos Sohn Theodor Otto (1867-1949) kauft 1905 die Buchhandlung von Carl Eduard Jantzen in der Breiten Straße. Die hatte es dort als Buchhandlung, Kunst- und Musikhandlung nebst Leihbücherei seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gegeben. Unter der Leitung von Theodors Sohn Christel Otto (1899-1966) bekommt die Jantzensche Buchhandlung in den 1920er Jahren den Namen Th. Otto & Sohn. Christel Ottos Ehefrau arbeitete in der Buchhandlung mit, sie hatte sogar Prokura. Sie kam aus der Familie von F. W. L. Borowsky, die unten neben der Post eine Druckerei hatte. Es ist eine praktische Sache, wenn Buchbinder und Drucker zusammenkommen.

Ich ging auf dem Schulweg jeden Tag an der Buchhandlung vorbei. Ich guckte selten in die Schaufenster. Viel interessanter war die Eisdiele von Chiamulera genau gegenüber. Die einzelnen Läden ds Ortes, bei denen es sich lohnte, in die Schaufenster zu gucken, waren Harjes und Karl Kass. Und Erich Maack, nicht wegen seiner Tochter Annegret. Wegen der Photoapparate. In meinen Träumen geh ich manchmal wieder die Breite Straße entlang. Wenn meine Eltern mich in den Laden schickten, weil sie dort etwas bestellt hatten, bekam ich immer eine Quittung mit, auf der Praxisbedarf stand. So etwas erkennt heute kein Finanzamt mehr an, aber damals ging das. Die Bücher, die ich da gekauft habe, unter anderem zwei Bände von Proust Recherche, haben alle noch dieses kleine grüne Etikett, auf dem Th. Otto  & Sohn steht. Als ich begann, englische Bücher bei ihnen zu bestellen, guckten sie mich in der Buchhandlung etwas missmutig an. Englische Bücher gab es vor über sechzig Jahren kaum in deutschen Buchhandlungen, auch nicht im amerikanisch besetzten Bremen. Die einzige Ausnahme war Marga Schoeller in Berlin, die eine große Abteilung für englische Bücher hatte. Aber Otto & Sohn bestellte mir knurrend die Bücher. Mein Exemplar von Walt Whitmans Leaves of Grass hat auch noch das kleine grüne Otto & Sohn Etikett eingeklebt.

Das hier war der Kommentar von Til Mette auf die Prämierung der Hansestadt als Literaturstadt Bremen. Das Sterben der Buchhandlungen hört nicht auf. Vor Jahren hat die traditionsreiche Buchhandlung Leuwer in Bremen zugemacht, jetzt schließt Otto & Sohn. Da bleibt im Ort nur noch Thalia, nicht die Muse der komischen Dichtung und der Unterhaltung, die Ladenkette. Aber wozu braucht man Buchhandlungen? Lesen tut der Bremer ja nicht so gerne, Klaus Groth wird das erfahren, wenn er eine Bremerin heiratet. Und schon vorher hat Friedrich Engels, Volontär in der Bremer Leinenhandlung H. Leupold, konstatiert: Eine Teilnahme an der fortlaufenden Literatur des Gesamtvaterlandes findet hier nicht statt: Man ist so ziemlich der Ansicht, dass mit Goethe und Schiller die Schlusssteine in das Gewölbe der deutschen Literatur gelegt seien, und lässt allenfalls die Romantiker noch für später angebrachte Verzierungen gelten. Und im gleichen Jahr 1840 sagte Arnold Duckwitz: Ein Lesen, Studieren und Forschen ohne praktischen Zweck ist hier nicht zu Hause und muss da gesucht werden, wo man die Zeit hat.

DiNachricht von der drohenden Schließung der Buchhandlung hat Aufsehen erregt, auch über Bremen hinaus. Jan Böhmermann hat in seinem Podcast  geschrieben: Otto & Sohn ist eine Institution. Wenn wir solche Buchhandlungen verlieren, verlieren wir ein Stück unserer Kultur und Gemeinschaft. Vielleicht gibt es noch eine klitzekleine Chance, dass Martin Mader das Geschäft nicht im August schließen muss.

Wenn das mit dem Sterben der Buchhandlungen so weitergeht, dann wird sich meine schöne Buchhändlerin nach einem neuen Beruf umsehen müssen.

Die Buchhandlung Otto & Sohn war schon häufiger in diesem Blog, so in den Posts die örtlichen BuchhandlungenNobelpreisträgerLiteraturstadt Bremensilvae: Wälder: LesenEine Liebe von SwannGeistiges Bremen und Buchhändler


Freitag, 29. November 2024

Vegesack

Das kleines Kaff Vegesack, aus dem ich komme, hat es einmal geschafft in die große Literatur zu kommen. Der Held des 'psychologischen Romans' Anton Reiser von Karl Philipp Moritz erlebt 1786 den Anblick des Vegesacker Hafens mit den Schiffen als unbeschreiblich ergötzlich: Den Nachmittag erreichte er Vegesack und betrachtete hier mit hungrigem Magen, was er noch nie gesehen hatte, eine Anzahl dreimastiger Schiffe, die in dem kleinen Hafen lagen. – Dieser Anblick ergötzte ihn ohngeachtet des mißlichen Zustandes, worin er sich befand, unbeschreiblich – und weil er an diesem Zustande durch seine Unbesonnenheit selber schuld war, so wollte er es sich gleichsam gegen sich selber nicht einmal merken lassen, daß er nun damit unzufrieden sei. Den Hafen, den Moritz in seinem Roman erwähnt, gab es damals schon hundertfünfzig Jahre, es ist der älteste künstliche Hafen Deutschlands. Von Holländern angelegt, die konnten so etwas. Die Bremer, die den Vegesacker Hafen dringend brauchten, weil die Weser versandet war, hätten das nicht hinbekommen.

Mein Heimatort Vegesack, über den Friedrich Engels sagte, Vegesack ist die Oase der bremischen Wüste, ist von Anfang an in diesem Blog gewesen. Mein Freund Konny hat mir im letzten Jahr gesagt, ich würde so viel über den Ort schreiben, da könnte ich doch ein Buch draus machen. Ich machte erst einmal etwas anderes, ich machte einen Vegesack Blog, der die schöne Adresse nordbremenamfluss hat. Und in diesen Blog muss ich jetzt eine kleine Hymne auf den Ort hineinschreiben, die ganz neu ist. Sie heißt ✺Vegesack und wird von Jan Böhmermann gesungen. Der war schon zweimal in meinem Blog, er wird in den Posts Erdogan und Oase in der bremischen Wüste erwähnt. In dem letztgenannten Post können Sie auch lesen, dass Böhmermann gar nicht aus Vegesack kommt, der kommt aus Aumund. Das sollte man der Genauigkeit halber vermerken. Aber hören Sie einfach mal in den Song hinein, der so schöne Verse enthält wie: Wer braucht Paris, New York und Ankara, schaffst du es hier, kommst du überall klar. Vegesack! Oh du, mein Vegesack.

Donnerstag, 8. August 2024

die kleinen Dinge

Ich besitze seit Jahrzehnten eine kleine schwarze Holzschale, die ein wenig so aussieht wie diese Schale von dem Designer Simon Legald. Es war ein Geschenk meiner Mutter. Ist von Harjes, hatte sie dazu gesagt. Harjes bedeutete im Ort etwas. Den Kunsthandwerk Laden von Harjes in der Sagerstraße (unten zur Hafenstraße hin) liebte sie. Alles im Haus, was aus Bronze, Kupfer oder Messing war, stammte von Harjes. Meine kleinen Schnapsgläser auch. Ich hatte keine richtige Verwendung für die Schale, obgleich mir der Name Harjes hätte sagen sollen, dass dies hier ein Designobjekt war. Ich stellte sie auf die Fensterbank und füllte sie mit allerlei Krimskrams.

Beim Frühjahrsputz habe ich jetzt einmal alles aus der Schale herausgenommen und die Schale mit Möbelpolitur behandelt, da war sie wieder wie neu. Und da merkte man ihr an, dass es nicht nur eine simple Schale war, sondern eigentlich ein Kunstobjekt. Sorgfältig gedrechselt, alle Fasern des Holzes parallel. Meinem Freund Uwe, der Kunstprofessor war, würde das gefallen. Bevor er der deutsche Keramikspezialist wurde, hat er Holzarbeiten gemacht und mir erklärt, worauf es beim fachmännischen Verarbeiten ankommt. Dierk Böckenhauer, der Mitglied im Bundesverband Kunsthandwerk ist, wusste, was er machte, als er meine schwarze Schale gedrechselt hat. Eine richtige Verwendung für die Schale habe ich immer noch nicht, jetzt ist sie einfach nur schön, a thing of beauty is a joy forever.

Die Geschichte der Firma Harjes beginnt 1912, als der Gürtlermeister und Metallbildhauer Friedrich (Fidi) Harjes seine Firma aufmacht. Nach dem Ersten Weltkrieg ist er nach Worpswede auf Heinrich Vogelers Barkenhoff gezogen und hat auch in der Worpsweder Arbeitsschule mitgearbeitet. Vogeler hat Harjes einen seiner fleißigsten Mitarbeiter genannt, er brauchte ihn, weil er hoffte, dass mit den Produkten der Metallwerkstatt etwas Geld in die leeren Kassen der Künstlerkommune kommt. Doch Harjes verlässt 1922 den Barkenhoff und zieht nach Bremen. Man trennt sich in Freundschaft, wie es auf dieser informativen →Seite der Firma Harjes heißt.

Aber in Wirklichkeit hasst Vogeler den Anarcho-Syndikalisten und fanatischen Vegetarier inzwischen. Hier hat er ihn 1919 mit Frau und nackten Kindern portraitiert, Arbeitsschule Barkenhoff heißt das Bild. Es sind keine Schweine auf dem Bild, aber es waren mal Schweine auf dem Bild. Die hat Vogeler auf Verlangen des Vegetariers Harjes übermalen müssen. Harjes ist für Vogeler zu einem Zertrümmerer geworden: wir setzen alle Mittel daran ihn loszuwerden, schreibt er. Das Verhältnis war schon vorher gespannt, wie man Vogelers Brief an den Pazifisten Pierre Ramus aus dem Jahre 1921 entnehmen kann: Fidi ist das kritische Element auf dem Hofe und bedeutet wohl das beste Gegengewicht in seiner scheinbaren Negation zu Vogeler, der, zu sehr im Zukünftigen verankert, das naheliegende der täglichen Wirklichkeit manchmal übersieht. In Vogelers 1952 (auf Wunsch von Wilhelm Pieck) veröffentlichten Erinnerungen gibt es ein Kapitel, das Zersetzungserscheinungen heißt, von Freundschaft zwischen ihm und Fidi ist da nicht mehr die Rede.

Harjes wusste, dass er in der Kommune von Vogeler nicht weiterkam. Vogeler wird ihm nie verzeihen, dass er alles Werkzeug und Gerät aus seinem Studio mitgenommen hat, Vogeler betrachtete das als Besitz der Kommune. Im 1925 erschienenen Katalog Kunst und Kunstgewerbe in Worpswede wird Harjes nicht erwähnt. Der Mann, den Vogeler immer als den Metallarbeiter bezeichnete, hatte sich in Bremen schon einen Namen gemacht; er macht jetzt große Arbeiten für das Chilehaus in Hamburg und für die Bremer Baumwollbörse, deren Präsident Dr A.W. Cramer sein Mäzen wird und ihm die neue Werkstatt in St Magnus finanziert. Wenn die Baumwollbörse ihrem Präsidenten 1930 zum fünfundsiebzigsten Geburtstag gratuliert, dann ist die Bronzemedaille wohl von Fidi Harjes. Die Metallkunstwerkstatt Harjes gibt es heute in der vierten Generation immer noch. Die Werkstatt ist heute in Meyenburg, den Laden in Vegesack hat man aufgegeben. Meine bei Harjes gekaufte schwarze Schale steht inzwischen auf meinem Schreibtisch, ich lege meine Lesebrille da rein, dann weiß ich immer, wo sie ist.

Die kleinen Dinge des Alltags, dazu habe ich ein kleines Gedicht. Es ist von William Carlos Williams und heißt This Is Just To Say. Wahrscheinlich war es mal ein Zettel, den der Dichter seiner Frau auf den Küchertisch gelegt hat:

This Is Just To Say 

I have eaten
the plums
that were in
the icebox

and which
you were probably
saving
for breakfast

Forgive me
they were delicious
so sweet

and so cold

17. Juni 1953

 An den 17. Juni 1953 kann ich mich noch erinnern. Noch genau erinnern. Weil ich dieses überdurchnittliche Erinnerungsvermögen geerbt hatte,...