Dieses Blog durchsuchen

Donnerstag, 8. August 2024

die kleinen Dinge

Ich besitze seit Jahrzehnten eine kleine schwarze Holzschale, die ein wenig so aussieht wie diese Schale von dem Designer Simon Legald. Es war ein Geschenk meiner Mutter. Ist von Harjes, hatte sie dazu gesagt. Harjes bedeutete im Ort etwas. Den Kunsthandwerk Laden von Harjes in der Sagerstraße (unten zur Hafenstraße hin) liebte sie. Alles im Haus, was aus Bronze, Kupfer oder Messing war, stammte von Harjes. Meine kleinen Schnapsgläser auch. Ich hatte keine richtige Verwendung für die Schale, obgleich mir der Name Harjes hätte sagen sollen, dass dies hier ein Designobjekt war. Ich stellte sie auf die Fensterbank und füllte sie mit allerlei Krimskrams.

Beim Frühjahrsputz habe ich jetzt einmal alles aus der Schale herausgenommen und die Schale mit Möbelpolitur behandelt, da war sie wieder wie neu. Und da merkte man ihr an, dass es nicht nur eine simple Schale war, sondern eigentlich ein Kunstobjekt. Sorgfältig gedrechselt, alle Fasern des Holzes parallel. Meinem Freund Uwe, der Kunstprofessor war, würde das gefallen. Bevor er der deutsche Keramikspezialist wurde, hat er Holzarbeiten gemacht und mir erklärt, worauf es beim fachmännischen Verarbeiten ankommt. Dierk Böckenhauer, der Mitglied im Bundesverband Kunsthandwerk ist, wusste, was er machte, als er meine schwarze Schale gedrechselt hat. Eine richtige Verwendung für die Schale habe ich immer noch nicht, jetzt ist sie einfach nur schön, a thing of beauty is a joy forever.

Die Geschichte der Firma Harjes beginnt 1912, als der Gürtlermeister und Metallbildhauer Friedrich (Fidi) Harjes seine Firma aufmacht. Nach dem Ersten Weltkrieg ist er nach Worpswede auf Heinrich Vogelers Barkenhoff gezogen und hat auch in der Worpsweder Arbeitsschule mitgearbeitet. Vogeler hat Harjes einen seiner fleißigsten Mitarbeiter genannt, er brauchte ihn, weil er hoffte, dass mit den Produkten der Metallwerkstatt etwas Geld in die leeren Kassen der Künstlerkommune kommt. Doch Harjes verlässt 1922 den Barkenhoff und zieht nach Bremen. Man trennt sich in Freundschaft, wie es auf dieser informativen →Seite der Firma Harjes heißt.

Aber in Wirklichkeit hasst Vogeler den Anarcho-Syndikalisten und fanatischen Vegetarier inzwischen. Hier hat er ihn 1919 mit Frau und nackten Kindern portraitiert, Arbeitsschule Barkenhoff heißt das Bild. Es sind keine Schweine auf dem Bild, aber es waren mal Schweine auf dem Bild. Die hat Vogeler auf Verlangen des Vegetariers Harjes übermalen müssen. Harjes ist für Vogeler zu einem Zertrümmerer geworden: wir setzen alle Mittel daran ihn loszuwerden, schreibt er. Das Verhältnis war schon vorher gespannt, wie man Vogelers Brief an den Pazifisten Pierre Ramus aus dem Jahre 1921 entnehmen kann: Fidi ist das kritische Element auf dem Hofe und bedeutet wohl das beste Gegengewicht in seiner scheinbaren Negation zu Vogeler, der, zu sehr im Zukünftigen verankert, das naheliegende der täglichen Wirklichkeit manchmal übersieht. In Vogelers 1952 (auf Wunsch von Wilhelm Pieck) veröffentlichten Erinnerungen gibt es ein Kapitel, das Zersetzungserscheinungen heißt, von Freundschaft zwischen ihm und Fidi ist da nicht mehr die Rede.

Harjes wusste, dass er in der Kommune von Vogeler nicht weiterkam. Vogeler wird ihm nie verzeihen, dass er alles Werkzeug und Gerät aus seinem Studio mitgenommen hat, Vogeler betrachtete das als Besitz der Kommune. Im 1925 erschienenen Katalog Kunst und Kunstgewerbe in Worpswede wird Harjes nicht erwähnt. Der Mann, den Vogeler immer als den Metallarbeiter bezeichnete, hatte sich in Bremen schon einen Namen gemacht; er macht jetzt große Arbeiten für das Chilehaus in Hamburg und für die Bremer Baumwollbörse, deren Präsident Dr A.W. Cramer sein Mäzen wird und ihm die neue Werkstatt in St Magnus finanziert. Wenn die Baumwollbörse ihrem Präsidenten 1930 zum fünfundsiebzigsten Geburtstag gratuliert, dann ist die Bronzemedaille wohl von Fidi Harjes. Die Metallkunstwerkstatt Harjes gibt es heute in der vierten Generation immer noch. Die Werkstatt ist heute in Meyenburg, den Laden in Vegesack hat man aufgegeben. Meine bei Harjes gekaufte schwarze Schale steht inzwischen auf meinem Schreibtisch, ich lege meine Lesebrille da rein, dann weiß ich immer, wo sie ist.

Die kleinen Dinge des Alltags, dazu habe ich ein kleines Gedicht. Es ist von William Carlos Williams und heißt This Is Just To Say. Wahrscheinlich war es mal ein Zettel, den der Dichter seiner Frau auf den Küchertisch gelegt hat:

This Is Just To Say 

I have eaten
the plums
that were in
the icebox

and which
you were probably
saving
for breakfast

Forgive me
they were delicious
so sweet

and so cold

Tagesausflug

Du hast ja immer viel photographiert, sagte Frank. Gute Bilder, schob er nach. Das war nett. Photographierst Du noch? Was soll man da sagen? Das Desaster von dem Kindergeburtstag erwähnen, wo die Kiddies nach dem Knipsen kein Bild in der Kamera sehen konnten? So etwas kann eine Exakta noch nicht. Und ein großer Gossen Belichtungsmesser ist keine Minikamera. Ich rede mit Frank über das Bild, das ich auf der Fahrt nach Helgoland von ihm gemacht habe. Über die Reling hängend und grün im Gesicht? Nein, nichts davon, Frank scheint auf dem Bild mit einer Kabinentür zu kämpfen, die nicht aufgehen will. Wir sind jenseits von Rote Sand, die Wellen sind kabbelig geworden, und der Wind hat aufgeböt. Da werden heute noch viele seekrank werden, die ganze Schule ist an Bord. Der Direktor hat ein Schiff gemietet, sein Stellvertreter Willy Klevenhusen macht die Organisation. Eltern dürfen auch mitfahren. Der beste Schulausflug aller Zeiten, viel besser als die staatstragende Busreise an die Zonengrenze bei Helmstedt. Leider kaum Mädels an Bord, Koedukation kommt bei uns erst im nächsten Jahr (wir sind für Philip Larkins Annus Mirabilis noch zu früh dran).


Wir stechen nicht von Bremerhaven aus in See. Nein, wir gehen in Vegesack vom Anleger neben dem Ruderverein an Bord, dann geht es die ganze Unterweser entlang. Sieht man sonst nur vom Segelboot oder dem Schreiber Dampfer aus. Ist für viele auch gut, sich an das Schiff zu gewöhnen. Wem in Oberhammelwarden schon schlecht ist, der wird in der Nordsee Schwierigkeiten haben. Das Portrait von Frank habe ich auf 13x18 vergrößert, habe ich mit allen guten Bildern gemacht. Er hat gar nicht gemerkt, dass er photographiert wurde, so sollen Portraits sein. Ich kriege an dem Tag beinahe die ganze Schule auf zwei Filme. Natürlich alles in schwarz-weiß, noch sind wir kleinen Nachfolger von Henri Cartier-Bresson echte Puristen. Und ein Gelbfilter ist heute bei dem Himmel auch angebracht.

Ich photographiere mich langsam über das ganze Oberdeck, ich kann mich heute noch mit jedem Photo an jeden Augenblick der Reise erinnern: Lehrer auf Deckstühlen, wie unser Klassenlehrer Gustav Renziehausen (von dem ich das Gerücht in die Welt setze, dass er mit Eva Renzi verwandt ist). Neben ihm unser Lateinlehrer, der etwas liest, das eher nach einem schlimmen Krimi als nach Sallust aussieht (dass er ein Nazi gewesen war, wusste damals niemand). Unser erster Klassenlehrer am Gymnasium, Hermann Bollenhagen, ist im Gespräch mit Volker Harjehusen, der Kapitän werden wird. Massenhaft Freunde und Mitschüler. Peter Umlandt beim Skatspielen, Peter Köpp, elegant in seinem weißen Norwegerpullover mit braunen Mustern drauf und dann unser neuer Mitschüler, dessen Vater das Lokal Meyer-Farge-Schiffsansage gepachtet hat. Auch manche Eltern sind auf den Bildern. Ulis Vater, der bei der Kriegsmarine ein tolles U-Boot Fernglas, dick mit hellgrünem Gummi ummantelt, geklaut hat. Und meine Mutter beim Skatspielen mit Schülern. Da machen jetzt mal andere die Erfahrung, wie das ist, wenn man mit einer Frau Karten spielt, die notorisch schummelt. Ist mir auch lieber, dass sie Karten spielt, als wenn sie Kleine Möwe, flieg nach Helgoland singt.

Jeder redet jetzt mit jedem, ein richtiges Gemeinschaftserlebnis, es gab ein Leben vor dem Mobiltelephon. Auf der Rückfahrt werden tolle Geschichten erzählt, wie man den Zoll ausgetrickst hat. Unserem Englischlehrer Toni Winkelsesser soll die geschmuggelte Flasche Whisky aus dem Mantel gerutscht und am Boden zerbrochen sein. Ein anderes Opfer des Whiskyschmuggels soll Bernd Neumann gewesen sein, der aus lauter Angst vor der Entdeckung beim Zoll eine halbe Flasche Whisky ausgetrunken hat. Soll dann besinnungslos auf der Rückreise auf dem Oberdeck gelegen haben. Hat mir Uwe erzählt, der Bernd auf den Tod nicht ausstehen kann. Stimmen könnte die Geschichte schon, der Bernd war furchtbar doof. Hindert ihn nicht daran, Politiker zu werden.

Irgendwann werde ich das Photo mit der Kabinentür und Frank mal kopieren und dem Frank schicken. Wäre ja auch schön, wenn ich es hier einscannen könnte. Bin aber nicht intelligent genug dafür. Heike hat mir vor zwei Jahren den Scanner geschenkt, kann ich immer noch nicht mit umgehen. Habe auch kein I-Phone und kein Handy, läuft alles an mir vorbei. {Jetzt habe ich dank der netten Leute von Gut Gedruckt im Knooper Weg das Photo doch endlich}. Und was machst Du so? fragt der Frank. Was der Frank macht, weiß ich, hat mir Peter Umlandt vor Jahren erzählt. Ja, was mache ich? Das halbe Leben an der Uni, jetzt Blogger. Blogger kann alles oder nichts heißen, deshalb übertreibe ich mal eben: Ich schreibe einen des besten deutschen KulturblogsKommt meine Tochter drin vor? fragt Frank. Nur dann ist das ein guter Kulturblog. Da hat er mich. Woher soll ich wissen, dass seine Tochter Anna die Tanzdramaturgin am Frankfurter Mousonturm ist? Und dass der Sohn an der polnischen Filmakademie (ein Nachfolger von Wajda und Polanski?) studiert hat?

Nunc pede libero pulsanda tellus, wofür waren wir die Lateinklasse? Es wird zu wenig getanzt in diesem Blog. Es gibt Posts, die Fontane tanztRattenTänzerTango oder Abtanzball heißen, doch das ist nicht viel. Aber immerhin wird jetzt bei mir Anna Wagner erwähnt.

Mittwoch, 7. August 2024

Arnold Duckwitz

Harry von Duckwitz liebt die schönen Frauen und den Jazz. Er ist im diplomatischen Dienst, steigt da aber früh im Leben aus. Harry ist ein charmanter, scharfzüngiger Versager und Tunichtgut. Wir kennen ihn aus drei Romanen. Seine Lieblingstitel kann man auf den drei CDs Wie man mit Jazz die Herzen der Frauen gewinnt hören. Zusammengestellt nach dem Geschmack des legendären Frauenhelden Harry von Duckwitz, dem Held aus Joseph von Westphalens Romanen "Im Diplomatischen Dienst", "Das schöne Leben" und "Die bösen Frauen" Harry von Duckwitz kennt Titel, die selbst ausgewiesene Jazz-Hasserinnen weich werden lassen, steht auf dem Schuber. Ich bin mir nicht so ganz sicher, ob man mit den CDs wirklich Frauen rumkriegen kann. Das, was der Dr Achim Körnig mir auf CDs gebrannt hat (und was man mal vor Jahren in seiner Sendung namens Round Midnight bei einem bayrischen Privatsender hören konnte), ist viel besser.

Es war dem alter ego von Harry von Duckwitz, dem Grafen Joseph von Westphalen, der die drei schönen Duckwitz Romane geschrieben hat, später etwas peinlich zu erfahren, dass es wirklich einmal einen Duckwitz im diplomatischen Dienst gegeben hatte. Der hieß Georg Ferdinand Duckwitz, er kam aus einer alteingesessenen Bremer Familie und war Jahrzehnte im diplomatischen Dienst gewesen. Dann holte man ihn aus dem Ruhestand zurück. Der parteilose Duckwitz, der jetzt in Lesum in einem von Ernst Becker-Sassenhof gebauten Haus wohnte, wurde außenpolitischer Berater von Willy Brandt. Jetzt konnte er in der Ostpolitik das durchsetzen, was ihm Konrad Adenauer einst nicht erlaubt hatte.

1958 hatte der Außenminister Heinrich von Brentano Duckwitz als Leiter der Ostabteilung in das Bonner Auswärtige Amt geholt.  Duckwitz machte seine seine ganz eigene Ostpolitik, die wenig mit Adenauers Politik zu tun hatte. Adenauer feuerte ihn. Duckwitz wurde nach Neu Delhi versetzt. Wo er sich die Zeit damit vertrieb, die Lebensgeschichte des Kollegen Edmund F. Dräcker um einige Kapitel zu bereichern. Humor hatte er. Von ihm ist der schöne Satz überliefert: Adenauer haßt nur drei Dinge: die Russen, die Engländer und das Auswärtige Amt. Als er aus dem Ruhestand nach Bonn zurückkam, sagte er zu den Journalisten der Pressekonferenz: Wer mich für klug hält, sagt zu mir "Herr Doktor Duckwitz'; wer mich für fein hält, sagt "Herr von Duckwitz'; und wer was von mir will, sagt "Herr Doktor von Duckwitz." Aber ein von Duckwitz war er wirklich nicht, und sein Leben hatte nun ganz und gar nichts mit unserem Schwerenöter Harry von Duckwitz zu tun.

Dieser Duckwitz ist einer der Männer, die einem den Glauben an Deutschlands Zukunft wiedergegeben haben, hat der dänische Ministerpräsident Hans Hedtoft Hansen einmal über Georg Ferdinand Duckwitz gesagt. Ist es denn erstaunlich, daß wir diesen Mann so hochschätzen und meinen, unendlich tief in seiner Schuld zu stehen? Ich meine nicht allein politisch und national, sondern auch menschlich. Er gab uns mitten in einer dunklen, bösen und brutalen Zeit ... eine Bestätigung dafür, daß es auch unter den Deutschen noch Menschen, mutige und denkende Männer gab. Duckwitz hatte ihm im September 1943 anvertraut, dass die Deportation der dänischen Juden (die er vergeblich zu verhindern versucht hatte) unmittelbar bevorstehe.

Und noch vor Kriegsende hat Duckwitz in Verhandlungen mit Schweden, dem deutschen Statthalter in Dänemark Werner Best und mit dem Hamburger Gauleiter Kaufmann erreicht, dass die Deutschen in Dänemark und Schleswig-Holstein kampflos kapitulierten. Dies ist einer jener glücklichen Augenblicke, der mir die wohltuende Gewißheit gibt, nicht umsonst auf der Welt zu sein, vertraute er einem Freund an. Der dänische Historiker Hans Kirchhoff hat ihm in seinem Buch Den gode tysker ein Denkmal gesetzt. Eine Kurzfassung (mit Bildern) finden Sie hier in der Gedenkschrift des Auswärtigen Amtes für Georg Ferdinand Duckwitz. Es lohnt sich, das zu lesen.
Die Dänen haben Duckwitz für seine Verdienste mit dem Komturkreuz des Danebrog Ordens geehrt. Und das Holocaust Zentrum Yad Vashem zählt ihn zu den Righteous Among The Nations. In der Villa Frieboeshvile in der Hovedgade 2 von Lyngby hatte Duckwitz seit 1941 gewohnt. Er hat die Wohnung bei Kriegsende nicht aufgegeben, Kopenhagen lag ihm am Herzen. 1955 ist er dort deutscher Botschafter geworden. Für Theo Sommer war er in einem Nachruf eine der nobelsten Gestalten unseres diplomatischen Dienstes, dem ist wenig hinzuzufügen.

Der Urgroßvater des deutschen Botschafters in Dänemark hieß Arnold Duckwitz (Bild). Er wurde am 27. Januar 1802 in Bremen geboren. Er war Kaufmann und wurde bald der Führer und Flügelmann der Kaufmannschaft und Präsident der Bürgerschaft. 1841 wurde er Senator, und 1848 wurde er als einer der beiden Vertreter Bremens nach Frankfurt entsandt. Dort ernannte ihn der Reichsverweser Erzherzog Johann von Österreich zum Reichshandelsminister. Und er baute, weil man ihn auch noch mit dem Marinedepartement betraute, die Reichsseewehr der deutschen 48er Regierung auf. Die dann - das ist nach dem oben zu Duckwitz und Dänemark Gesagten ein klein wenig ironisch - gegen die dänische Flotte kämpfte.

Das mit Arnold Duckwitz weiß ich, seit ich lesen kann. Denn über dem Eingang des großen Hauses bei uns gegenüber, in dem das Fräulein Carla Hockemeyer mit ihren Dackeln wohnte, war eine Steintafel, auf der stand: Auf diesem Landsitz wohnte Arnold Duckwitz 1802 bis 1881 Bürgermeister von Bremen 1848 Reichshandelsminister in Frankfurt a.M. Gründer der ersten deutschen Reichskriegsflotte. Von dem Haus gibt es keine Abbildung im Internet (jetzt habe ich dank Pastor Ingbert Lindemann eine), auch in der Datenbank des Landesdenkmalamtes gibt es keine. Man könnte glauben, dass es den repräsentativen Landsitz mit Blick auf die Weser niemals gegeben hat. Aber im Einwohnerverzeichnis der Gemeinde Vegesack von 1856 steht: Duckwitz, Arnold, Senator in Bremen, Sommerwohnung, Weserstr. 76 u. 77. Und das Landhaus ist natürlich in Rudolf Steins Klassizismus und Romantik in der Baukunst Bremens abgebildet.

Arnold Duckwitz (hier ist er auf einem etwas schief hängenden Gemälde in der Wandelhalle des Bremer Rathauses) hat in der Deutschen Biographie einen Eintrag, der natürlich viel besser ist als der Wikipedia Artikel, und die Bremischen Biographien des 19. Jahrhunderts widmen ihm einige Seiten. Obgleich er die erste deutsche Flotte aufgebaut hat, habe ich vor seinem Haus nie eine Delegation der deutschen Bundesmarine gesehen. Wir haben es da wohl nicht so mit der Tradition wie die Engländer mit ihrer Royal Navy. Der junge Hockemeyer, der den Duckwitzschen Landsitz erbte, hat ihn abreißen lassen. Stand zwar unter Denkmalschutz, aber wen kümmert das? Gab eine Konventionalstrafe und einige Jahre Bauverbot, das schlägt man doch auf die Preise der Eigentumswohnungen der beiden Apartmenthäuser auf, die dann da gebaut wurden. Er war als Kind das, was man in Köln 'ne fiese Möpp nennen würde. Heute gilt er laut Wikipedia als hanseatischer Mäzen. Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Das Buch von Duckwitz Denkwürdigkeiten aus Meinem Öffentlichen Leben. Von 1841-1866: Ein Beitrag Zur Bremischen Und Deutschen Geschichte hat er bestimmt nie gelesen.

Lesen Sie auch: ➱Admiral Brommy.

Bremer Klausel

Der hier konnte gehen, weil er eine Ausstiegsklausel in seinem Vertrag hatte. Mit seinem Ausstieg begann Werders Abstieg. Aber diese Klausel ist nicht mit dem Begriff Bremer Klausel gemeint. Sondern etwas viel Ernsthafteres als ein dahin torkelnder Fußballverein: nämlich das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, das am 23. Mai 1949 um 24 Uhr in Kraft trat. Auf jeden Fall in Trizonesien.

Art 141: Artikel 7 Abs. 3 Satz 1 findet keine Anwendung in einem Lande, in dem am 1. Januar 1949 eine andere landesrechtliche Regelung bestand, heißt es im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Der Artikel 7 Absatz 3 lautet: Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt. Kein Lehrer darf gegen seinen Willen verpflichtet werden, Religionsunterricht zu erteilen. Sie werden sich jetzt fragen, wozu man den Artikel 141 überhaupt brauchte. Die Antwort ist einfach: für die Hansestadt Bremen. Es ist die sogenannte Bremer Klausel

Es gibt noch eine andere Bedeutung des Begriffes Bremer Klausel, die hat aber nichts mit der Religion zu tun. Die bedeutet nur, dass Bremer Kaufleute in der Vergangenheit Verträge nicht schriftlich festhielten, sondern mit einem Handschlag besiegelten. Von solch schlichter Ehrlichkeit träumt man ja heute. Heute braucht man für jeden Vertrag Juristen, und auch der Artikel 141 des GG hat schon viele Juristen beschäftigt. Wenn Sie den Wikipedia Artikel Bremer Klausel lesen, können Sie einen Eindruck von der Materie bekommen. Da gibt es einen möglichen Widerspruch zu den schulrechtlichen Bestimmungen des Art. 21 des Reichskonkordats bis zu der Frage der Reichweite der Bremer Klausel.


Unter den 47 Lehrkräften (42 evangelisch, 5 katholisch) meiner Schule gab es nur einen Religionslehrer. Also musste der Pastor mit ran, der bekam einen Lehrauftrag (da war es nur praktisch, dass die Schule gleich neben der Kirche lag). Der Religionslehrer war pädagogisch die größte Flasche der Schule. Er ist später Professor an der neugeschaffenen Universität Bremen geworden. Bekam (ohne dass er promoviert oder habilitiert war) den Titel eines Professors. Genauer: Professor für Religionswissenschaft mit dem Schwerpunkt Didaktik des Religionsunterrichts (bzw. Biblische Geschichte), Theorie und Praxis des Unterrichts und Pädagogische Anthropologie. Für das, was er dem Namen nach vertrat, gab es wohl keinen Ungeeigneteren. Ich verkneife mir das jetzt mal, dazu noch irgendetwas zu sagen. Das mit den 47 Lehrern weiß ich so genau, weil ich einmal antiquarisch mehrere Bände des Philologen-Jahrbuchs (auch Kunzes Kalender genannt) gekauft habe. Wunderbar für Klatsch und Tratsch, jeder Lehrer ist drin, mit allen Daten (heute gibt es das aus Datenschutz Gründen nicht mehr in dieser Form). Natürlich auch dem Glaubensbekenntnis. Wenn ich meinem alten Klassenlehrer eine Geburtstagskarte schreiben will, weiß ich, wo ich nachzugucken habe.

Mein Klassenlehrer wird in diesem Jahr 87, ist aber noch gut drauf. Auf den Photos vom letzten Klassentreffen sieht er noch richtig jugendlich aus. Zu Weihnachten haben wir eine Stunde lang telephoniert. Er hat sich in diesem Monat mit einer anderen Klasse zur Vierzigjahrfeier des Abiturs  getroffen. Der Jürgen, dem er privat Mathematik Nachhilfe gegeben hat, wollte auch kommen. Der Jürgen hat einen vollen Terminkalender, weil er Spitzenkandidat seiner Partei ist. Früher sei er ein ganz braver Schüler gewesen, hat der Gustav gesagt. Gustav und ich wir duzen uns jetzt, dafür sind wir alt genug. Ich habe ihn auch schon einmal im Blog erwähnt, als ich über meinen Klassenkameraden Wuddel schrieb (das hat er natürlich gelesen). Ob er sich mit dem Jürgen auch duzt, das weiß ich nicht. Der Gustav sieht immer noch das Gute in allen Menschen.

Andere Lehrer haben vom Jürgen aber eine ganz andere Meinung. Angeblich soll er schon mit vierzehn ein Revoluzzer gewesen sein und sich an den Hermann Rademann rangeschmissen haben, der in Bremen die Revolution machte. Ich habe den schon einmal im Blog erwähnt. Wenn Sie wissen wollen, wie das in den sechziger Jahren mit der Revolution in Bremen war, lesen Sie doch einmal den langen Post, der Heinrich Hannover heißt. Mit Hermann Rademann war ich in der Evangelischen Jugend. Also bevor er Revolutionär wurde und sich dann den Kopp wegkokste. Der Jürgen bezeichnet sich heute als gottlos. Hat unser liberaler Religionsunterricht, der in der Oberstufe eher einem Philosophie Proseminar glich, das bewirkt? Immerhin hat der Jürgen bei der Beerdigung seines Vaters in der Kirche die Trauerrede gehalten. Wollte das der Pastor nicht, weil der Vater vom Jürgen in der NSDAP und der Waffen SS gewesen war? Das waren doch so viele in dem Kaff. Unsere Schulzeitung mit dem Namen Echo hat mal einen Artikel aus dem Neuen Deutschland abgedruckt. Darin stand sorgfältig aufgelistet, wer von den Vegesacker Geschäftsleuten in der NSDAP und in der SS gewesen war. Es war der Schulleitung sehr unangenehm, aber sie hat den Abdruck nicht verhindert. Die Pressefreiheit der neuen deutschen Demokratie war für den Direktor ein höheres Gut als die Vermeidung eines Skandals in einem Bremer Vorort.

Die Bremer Klausel im Grundgesetz sichert eine Klausel der Bremer Landesverfassung ab, wonach in Bremen kein religionsgebundener Unterricht erteilt werden darf. Womit man ursprünglich einmal die zwei wichtigsten Bremer Religionen versöhnen wollte. Nein, nicht Kaffee- und Rotweinimport, sondern - lachen Sie jetzt bitte nicht - reformierte und lutherische Gläubige. Ich weiß nicht, ob es wirklich noch eine dritte Gruppe gab, es gab ja Leute, die lutherisch als luthérisch aussprachen. Aber ich glaube, das waren nur Lutheraner (oder Luthéraner?), die sich einbildeten, was Besseres zu sein. Hinter diesem latenten protestantischen Glaubenskampf im 19. Jahrhundert steht ein Bremer Hassprediger namens Johann Smidt. Der Theologe, Pfarrer und Politiker ist natürlich reformiert. Weil man in Bremen eben, auf jeden Fall nach Johann Smidt, reformiert ist. Weil die ganzen religiösen Spinner, die die Holländer in der Reformationszeit nicht mehr haben wollten, nach Bremen gegangen sind. Wenn sie nicht nach Münster gingen wie Bernhard Knipperdollinck. Und in einem eisernen Käfig am Turm von St. Lamberti aufgehängt wurden. Ich vereinfache das jetzt etwas, aber seit Heinrich von Zütphen (Bild oben) in Bremen gepredigt hat - und seit Daniel von Büren (der bei Luther und Melanchthon studierte) Bürgermeister wurde - ist Bremen reformiert.

Das mit den theologischen Spinnern in Bremen hat übrigens mit der Reformation nicht aufgehört. Der Bischof von Hitlers Gnaden  Heinz Weidemann, der damals den Dom so hübsch dekorieren ließ und eine Bremer Kirche in Horst Wessel Kirche umtaufen wollte, war zweifellos ein Fall für die Psychiatrie. Und auch der Pastor Georg Huntemann, der sich nach dem Gottesdienst an der Kirchentür den Ring an der Hand küssen ließ, war nicht so ganz schussecht. Selbst die Vegesacker Kirche wird eines Tages einen Pastor haben, der - sagen wir es zurückhaltend - sehr exzentrisch ist. Ein Gottesdienst für Hunde im Stadtgarten gehört da noch zu den kleinsten Exzentrizitäten. Ich möchte jetzt nicht den Eindruck erwecken, dass die Hirten der Bremer Kirchengemeinden nur aus Spinnern bestanden. Wir hatten in Bremen auch einmal einen Emil Felden.

Johann Smidt, der aus mir nicht bekannten Gründen für Bremens größten Politiker gehalten wird, kann die Lutheraner überhaupt nicht ausstehen, die kommen für ihn gleich nach den Juden. Und obgleich eine Vielzahl der Bundesstaaten des 1815 errichteten Deutschen Bundes die reformierten Kirchen mit den lutherischen vereinen, bleibt Bremen unter calvinistischem Einfluss. Erst mit der Einführung eines gemeinsamen Gesangbuchs im Jahre 1873 gab es eine (Verwaltungs-) Union zwischen lutherischen und reformierten Gemeinden. Das betraf meinen Heimatort Vegesack nicht, zum dreihundertsten Jahrestag der Reformation am 31. Oktober 1817 schlossen sich da Reformierte und Lutheraner (nach preußischem Vorbild) zu einer Gemeinde zusammen: ein Gott, ein Christus, eine Gemeinde steht über der Tür der neuen klassizistischen Kirche. Ach, was wäre die Welt schön, wenn das alle glauben würden. Aber das, was Freud in Das Unbehagen in der Kultur so schön den Narzissmus der kleinen Differenzen genannt hat, ist offensichtlich stärker als jeder Einigungsgedanke.

Wenn der Hass von Johann Smidt auf die Lutheraner vielleicht nur lächerlich ist, sein Hass auf die Juden ist es nicht. Er betreibt auf dem Wiener Kongress die juristischen Grundlagen für die Fremdkörper in einem christlichen Staatswesen. Fälscht eigenmächtig die letzte Fassung der Beschlüsse, was für die Bremer Juden bedeutet, dass sie ihre Emanzipation, die Napoleon ihnen eingeräumt hatte, wieder verlieren. Und versichert dann den österreichischen Delegierten: Wir möchten gerne mit der ganzen Welt in Frieden leben, die Juden sind aber ein beständiges Ferment um Unfrieden mit anderen Staaten zu veranlassen, deshalb zeuge es von unserer guten und friedlichen Gesinnung, wenn wir sie los zu werden suchten. Es wird ihm in den 1820er Jahren gelingen. Er wird es auch noch schaffen, bis zum Jahre 1830 der lutherischen Domgemeinde den Status einer Gemeinde (inklusive ihres Vermögens und Grundbesitzes) vorzuenthalten.

1798 erscheint in Bremen die revolutionäre Schrift Vorstellung an Bremens patriotische und edelgesinnte Bürger die Errichtung einer Bürgerschule betreffend der Pastoren Johann Ludwig Ewald und Johann Caspar Häfeli. Die beiden Herren sind zwar auch calvinistische Theologen, aber sie sind stark von Pestalozzi beeinflusst und erfinden ein Reformmodell, in dem reformierte und lutherische Schüler gemeinsam unterrichtet werden. Nicht mehr in Religion, sondern in Biblischer Geschichte. Und dieses Fach wird man in Bremen 1947 in die neue Landesverfassung hineinschreiben. Und da man den konfessionsunabhängigen Unterricht in Bremen nicht aufgeben möchte, muss die neue Republik 1949 in das Grundgesetz die Bremer Klausel, den Artikel 141, einfügen. Bremen ist nicht das einzige Bundesland, das einen konfessionsübergreifenden Religionsunterricht anbietet, in Berlin gibt es so etwas auch. Und in Schleswig-Holstein will die neue Regierung, horribile dictu, das auch einführen. Schon titelten die Kieler Nachrichten Online vor einem Jahr: Der Glaubenskampf um den Religionsunterricht geht in eine neue Runde. Laut Koalitionsvertrag soll das Schulfach Religion vom Bekenntnis gelöst und konfessionsübergreifend gestaltet werden. Für die christlichen Kirchen ein Schock. Glaubenskampf, Schock, man fasst es nicht. War die Aufklärung des 18. Jahrhunderts ganz umsonst?

Hat unser Jürgen vom konfessionsunabhängigen Bremer Religionsunterricht etwas mitgenommen? Nach seinen eigenen Erinnerungen (dargelegt in: Der Stadtgarten in Vegesack auf Seite 36) hat er die Schule ständig  geschwänzt: Unten an der Weser war es heiß. Das hatte seine Gefahren. Tiroler Landwein, Wermut oder gar schlimmere Drogen wie etwa Kosakenkaffee entfalteten so eine ganz tückische Wirkung. Aber auch dafür war der Stadtgarten ein angenehmer Ort. Man lag, statt in der Schule zu sein, einfach in der Sonne, die Weser plätscherte. Wenn ein Schiff vorbeirauschte, klatschten Wellen an den Strand. Wer zu nahe dran lag, wurde nass, oder was ärgerlicher war, der 'schwarze Krauser'. So konnte man dem Mittag entgegensehen. Ja, man kann Gott auch in der Natur begegnen, das nennen wir doch mal einen angewandten Pantheismus. Mit Tiroler Landwein, Wermut und Kosakenkaffee. Da können wir nur froh sein, dass ihm seine Partei noch eine halbe Theologin zur Seite gestellt hat.

Pastoren

Ich verdanke der Jugendarbeit unserer Kirchengemeinde, die Klaus Nebelung und seine Frau Waltraud in den fünfziger und sechziger Jahren aufgebaut haben, sehr viel. Das habe ich schon in vielen Posts erwähnt, seit ich diesen Blog schreibe. Für den Pastor Nebelung habe ich 2011 zum Geburtstag den Post Vor dem Sturm geschrieben. Nebelung liebte Fontane und hat einmal einen Vortrag über die Pastoren in Fontanes Romanen gehalten. In dem Vortrag fand sich auch das schöne Zitat, das Fontane der Pastorin Schleppegrell in den Mund leht: Man muss sich untereinander helfen, das ist eigentlich das Beste.von der Ehe. Sich helfen und unterstützen und vor allem nachsichtig sein und sich in das Recht des andern einleben. Denn was ist Recht? Es schwankt eigentlich immer. Aber Nachgiebigkeit einem guten Menschen gegenüber ist immer recht. Dass wir Klaus Nebelung für elf Jahre als Diakon bekamen, verdanken wir dem Landesjugendpfarrer Werner Brölsch. Dessen Initiative die Bremer Kirche auch das Haus Meedland auf Langeoog verdankt. Wenn er nicht da war, durften wir bei den Arbeitsfreizeiten bei schlechtem Wetter seine Wohnung unter dem Dach benutzen, auch seinen Braun Schneewittchensarg Plattenspieler, das hatte er uns erlaubt.

Ich habe, beginnend mit Heinrich Keller, alle Pastoren unserer Gemeinde gekannt. Keller war mit meinem Opa befreundet, und er hat meinen Bruder getauft. Bei uns im Wohnzimmer. Ludwig Erks Deutscher Liederhort, den mein Opa sich mal von ihm ausgeliehen und nie zurückgegeben hat, liegt immer noch auf meinem Klavier. Der Pastor, der mich konfirmierte (und mir Markus 9:32 als Denkspruch mitgab), war Nazi gewesen, und die Landeskirche hatte lange gezögert, ihm wieder eine Gemeinde anzuvertrauen. Sein Nachfolger Pastor Nelle gab an meinem Gymnasium Religionsunterricht, also diesen Religionsunterricht, für den es im Grundgesetz die sogenannte Bremer Klausel gibt. Ich kam mit ihm nicht klar, aus irgendeinem Grund hatte er sich zuerst geweigert, meine Oma zu beerdigen. Und die Zwillinge eines Freundes wollte er nicht taufen, weil die in den USA geboren worden waren. Pastoren sind manchmal seltsam. 

Wir waren unserer Kirche nicht immer treu, mein Vater mochte den Pastor Hinrich Hemmelgarn, weshalb wir häufig in der Grohner Kirche waren. Wohin wir am Sonntag gingen, hing ein wenig von der Laune meiner Mutter ab. Bei dem guten alten Pastor Heinrich Keller hätte sie nicht die Kirchen von Sonntag zu Sonntag gewechselt, aber mit seinen Nachfolgern kam sie nicht so zurecht. Weil sie im Herzen, genau wie die ganze querulatorische Sippschaft aus Ostwestfalen, Lutheranerin war. Deshalb hat sie auch in Aumund und nicht in Vegesack geheiratet. Die Glaubenskämpfe in Bremen sind mit Pezelius nicht zuende. Und so sind wir häufiger in der neo-romanischen Kirche in Grohn, manchmal auch in dem neugotischen Monster in Aumund. Und einmal Weihnachten bei dem Laienprediger Manfred Hausmann in Rönnebeck, das galt in Bremen als chic. 

Mein Klassenkamerad Klaus-Dieter Mildenberger, den wir Mille nannten, hat nach dem Abitur Theologie studiert und ist Pastor geworden. Wir waren in derselben Lateinklasse unseres Gymnasiums und saßen übereck jahrelang beinahe nebeneinander. Zwischen uns saß unser Klassenkamerad Wuddel, der mir einmal in einem Brief etwas selbstironisch schrieb: Wenn ich nicht Dich als linken und Mille als rechten Nachbarn zum Abschreiben gehabt hätte, wäre ich kein rechtschaffener A-14-Beamter geworden, sondern würde mit viel Glück vielleicht bei Nehlsens Müllabfuhr untergekommen sein. Der Mille, den wir auf diesem Photo in der Mitte bei der Feier zum 150-jährigen Bestehen des Männerchores Apollonia Lesumstotel sehen, ist inzwischen als Pastor pensioniert. 

Aber ich glaube, für einen Pastor hört die Arbeit nie auf. Die Gemeinde braucht ihren Hirten. Und sei  es als Gast im Erzählcafé. Der Pastor Dietrich Kleiner, der meine Eltern beerdigt hat, war schon lange pensioniert, aber als ich ihn fragte, übernahm er die Aufgabe ohne einen Augenblick zu zögern. Und blieb immer im Kontakt. Als ich zu bloggen begann, gab er mir noch gute Ratschläge. Meine Mutter schätzte den Mille sehr und besuchte häufig seine Gottesdienste, weil sie den Vegesacker Pastor nicht mehr ausstehen konnte. Also diesen Pastor, der einen Gottesdienst für Hunde im Stadtgarten machte und die Hälfte des Jahres nicht bei seiner Gemeinde ist, weil er Bordgeistlicher auf Kreuzfahrtschiffen ist. Bei unserer goldenen Konfirmation 2009 musste er gestehen, dass er noch nie etwas von Klaus Nebelung gehört hätte. Dazu fällt mir wenig ein. Ich habe diesen Pastor schon einmal erwähnt; die Bremer Landeskirche hat schon seltsame Spinner wie Heinrich Weidemann und Georg Huntemann in ihren Reihen gehabt. Dass man einen anderen Weg als Weidemann und seine Anhänger gehen konnte, hat das Leben von Gustav Greiffenhagen gezeigt. Der strahlende Ruf des Dompredigers Günter Abramzik, der bei der kleinen Bremer 68er Revolution einer der wenigen Vernünftigen war, ist durch die Mißbrauchsvorwürfe für ewig beschädigt.

Mit alledem hat der Mille nichts zu tun, er war zweiunddreißig Jahre für seine Gemeinde da und hat keine Hundesgottesdienste oder Reisen mit dem Traumschiff gemacht. War auch selten in der Zeitung. Einmal, als er der Senior des evangelisch-lutherischen Gemeindeverbandes wurde. Er war damals der Nachfolger von Pastor Erich Viering, der einmal als Missionar in Togo gewesen war. Den Zeitungsausschnitt habe ich aufgehoben. 

Mille war immer seriös. War nie solch ein Exzentriker wie ich. Der anonyme Autor unserer Bierzeitung zum Klassenfest der 10 L1 (erstes und letztes Erscheinen am 25. März 1960) schrieb über mich: imaginärer Kopf des Unternehmens, dabei kennt er sich selbst nicht einmal, muss dauernd auffallen. Und über Klaus-Dieter Mildenberger, der unter Humanistisches Personal aufgeführt wurde, konnte man lesen: beliebt bei jung alt, denkt nicht, sondern glaubt. Standhaft in jeder Beziehung. Ich finde das nach über sechzig Jahren sehr treffend. Standhaft war er immer, auf ihn konnte man sich immer verlassen. Der pensionierte Pastor liest jetzt manchmal meinen Blog und schreibt mir nette Dinge wie: Einfach schön zu lesen oder Mach weiter so. Es ist eine Freude Deine Texte zu lesen. Der Mille hat heute Geburtstag, er wird achtzig Jahre alt. Er war hier schon einmal im Blog, war auf einem Photo vom Abtanzball zu sehen (ganz oben rechts mit dem weißen Querbinder). Mit all den anderen von uns, die in diesem Jahr achtzig werden. Die Ingrid übrigens auch. Und deshalb schreibe ich diesen Post für ihn anstelle einer Glückwunschkarte und sende meine herzlichen Glückwünsche in die alte Heimat. 

Und dazu brauche ich heute ein Gedicht, in dem Pastoren vorkommen. Fällt mir nicht schwer, so etwas zu finden. Ich nehme das Gedicht Pastors Abendspaziergang von Friedrich Theodor Vischer. Den Autor mag ich, weil er den wunderbaren Roman Auch einer geschrieben hat; er hat natürlich einen Post, und im Post Kuhreigen wird er auch erwähnt. In der Welt der Pastoren kennt sich der Pastorensohn Vischer aus, er hat Theologie studiert und seinen Doktor gemacht. Sich dann aber von der Kirche ab- und der Literatur zugewandt.

Das Abendroth brennt an des Himmels Saum,
Ich schlendre so, als wie im halben Traum,
Zum Dorf hinaus auf grünem Wiesenwege
Am Wald hinunter, wie ich täglich pflege. 

Rings auf der Wiese wimmelt es und schafft,
Vom frischen Heu kommt mit gewürz'ger Kraft
Ein süßer Duft auf kühler Lüfte Wogen,
Mein alter Liebling, zu mir hergezogen. 

Roth, Blau und Gold, ein ganzes Farbenreich,
Betrachtet sich im spiegelhellen Teich,
Wild-Enten sieht man durch die Wellen streben
Und hoch in Lüften Weih und Sperber schweben. 

Ein flüsternd Wehen geht im dunkeln Wald,
Die Vögel rufen, daß es weithin schallt,
Die Unke will sich auf der Flöte zeigen,
Die Grille zirpt und auch die Schnaken geigen. 

Studiren wollt' ich einen Predigtplan,
Nun hör' ich selbst die große Predigt an,
Voll Kraft und Mark, ein Menschenherz zu stärken,
Die große Predigt von des Meisters Werken.

 

Lesen Sie auch: Kirchen

Reformationstag

Der Krieg gegen Napoleon war zu Ende, das Freiwillige Bremische Jäger-Korps von Hauptmann Böse ist wieder aus Frankreich zurück. Man macht sich in Bremen daran, die Spuren des Franzmanns zu löschen. Die Spuren in der Sprache wird man nicht löschen können, viele Dinge, wie das sittschepö (si je peux), werden uns erhalten bleiben. Wenn man genauer hinschaut, dann war nicht alles schlecht, was die Franzosen verordnet hatten. Die Emanzipation der Juden zum Beispiel. Aber da gibt es in Bremen jemanden, der  die völlige Austreibung der Kinder Israels aus der bremischen Republik für eine angelegentliche Staatssorge hält. Dieser Judenhasser ist nicht irgendjemand, der Mann heißt Johann Smidt (Bild), ein Mann, den man für den größten Bremer überhaupt hält.

Das tun nicht alle. Zur Feier seines zweihundertsten Geburtstag 1973 kommt der ehemalige Hamburger Bürgermeister Herbert Weichmann nicht nach Bremen, obgleich man ihn eingeladen hat. Er weist in einem Brief darauf hin, dass Johann Smidt den Juden Herbert Weichmann nicht bei der Feier hätte dabei haben wollen. Ich kann mich noch genau an die Aufregung damals erinnern, manche sprachen von einem Eklat. Aber bei allem Bremer Patriotismus: Weichmann hatte ja völlig recht, in Glaubensdingen ist Smidt nichts anderes als ein Haßprediger.

Nach den Juden stehen die Lutheraner auf seiner Haßliste, für Smidt sind nur reformierte Christen richtige Menschen. Das hat etwas mit der Geschichte Bremens zu tun. Vereinfacht gesagt: seit Heinrich von Zütphen in Bremen gepredigt hat - und seit Daniel von Büren (der bei Luther und Melanchthon studierte) Bürgermeister wurde - ist Bremen auf dem Weg zum Calvinismus. Der wurde im 16. Jahrhundert durch einen gewissen Christoph Pezel in Bremen etabliert. Der Mann, der sich Pezelius nennen wird, war gerufen worden, um im Glaubenskampf zwischen Lutheranern und Calvinisten zu vermitteln. Das Ergebnis ist, dass Bremen von nun an reformiert sein wird. Sie können mehr dazu in dem Post Bremer Klausel lesen. Und Pezelius wird einen beispiellosen Bildersturm organisieren. Daran zu denken, tut einem Lutheraner und Kunsthistoriker immer weh. Der ehemalige Direktor des Focke Museums und Bremer Landesdenkmalpfleger Werner Kloos führte das Kunstbanausentum der Bremer auf den Bildersturm von Pezelius zurück: Die Verarmung des bremischen Kunstbesitzes rührt aus jener Zeit, jedoch auch eine gewisse allgemeine Gleichgültigkeit gegenüber den Werten künstlerischer Aussage.

Johann Smidt konnte zwar das Vermögen der lutherischen Domgemeinde beschlagnahmen und ihr (bis 1830) den Status einer Gemeinde verweigern, aber die Lutheraner werden seine Zeit als Bürgermeister überleben. Mein Heimatort Vegesack ist einen ganz anderen Weg gegangen, von dem ich nicht weiß, ob er Johann Smidt gefallen hat: zum dreihundertsten Jahrestag der Reformation am 31. Oktober 1817 schlossen sich da Reformierte und Lutheraner (nach preußischem Vorbild) zu einer Gemeinde zusammen: ein Gott, ein Christus, eine Gemeinde wird über der Tür der neuen klassizistischen Kirche stehen.

Wir die unterschriebenen Einwohner des Fleckens Vegsack haben oft das Bedürfniß nach einem eigenen Prediger und einer eigenen Kirche hier im Orte gespüret, mit diesen Worten beginnt die Stiftungsurkunde vom Reformationstag 1817. Auf ihr steht als erster Name der des Amtmanns Dr August Christian Wilmanns (hier sein Gedenkstein neben der Kirche). Nach dem heißt heute der Wilmannsberg, wo wir früher im Winter Schlitten fuhren. Als zweiter unterschreibt der damals berühmteste Vegesacker, Dr Albrecht Wilhelm Roth. Dann folgen (ohne systematische Ordnung) 91 Namen mit Berufsangaben: See-Schiffer, Capitain, Lootse, Seemann, Hafenmeister. Ein Abbild der soziologischen Schichtung des Fleckens, dessen Zentrum damals noch der Hafen und die Hafenstraße sind. Die Kirche hat man noch nicht, man muss am Sonntag nach Lesum oder Blumenthal gehen, aber die Kirche wird kommen. Ein Gott, ein Christus, eine Gemeinde. Ach, was wäre die Welt schön, wenn das alle glauben würden. Aber das, was Freud in Das Unbehagen in der Kultur so schön den Narzissmus der kleinen Differenzen genannt hat, ist offensichtlich stärker als jeder Einigungsgedanke.

Der Kirchenbau in Vegesack wird öffentlich ausgeschrieben, sieben Zimmermeister werden Entwürfe einreichen. Finanziert wird die Kirche aus Sammlungen, Spenden und Anteilscheinen. Ein evangelischer Pastor aus Archangelsk sendet 1.000 Rubel. 1821 ist die Kirche fertig, aber man wird sehr schnell feststellen, dass sie zu klein ist. Schon für den ersten Gottesdienst am 5. August 1821 musste man Eintrittskarten ausgeben. 1828 können von 514 Familien nur 197 einen Kirchenplatz mieten. Für den Erweiterungsbau gewinnt man den renommierten Bremer Architekten Jacob Ephraim Polzin, dessen Entwürfe man 1818 nicht berücksichtigt hatte. Wahrscheinlich war das wieder die allgemeine Gleichgültigkeit gegenüber den Werten künstlerischer Aussage.

Ein Gott, ein Christus, eine Gemeinde. Wie viele Götter braucht der Mensch? Die Vegesacker evangelische Gemeinde feiert heute nicht nur fünfhundert Jahre Reformation, sie feiert auch ihr 200-jähriges Bestehen. Ich möchte dazu aus der Ferne gratulieren. Es wird natürlich einen Festgottesdienst geben, sogar mit Sekt hinterher. Das Buch 200 Jahre Evangelische Kirchenge­meinde Vegesack 1817–2017 (Donat Verlag), an dem Thomas Begerow und Ingbert Lindemann so lange gearbeitet haben, ist gestern Abend vorgestellt worden. Und der Konny hat dafür gesorgt, dass sich einige der Evangelischen Jugend aus den fünfziger Jahren nach dem Gottesdienst noch in der Strandlust treffen werden. Wahrscheinlich werden einige von diesem Photo aus dem Jahre 1961 dabei sein. Der Konny auf jeden Fall, er steht auf dem Photo da oben neben mir. Ich bin der mit dem Schlips. Das hätten Sie von mir nicht anders erwartet.

Lesen Sie auch: Bremer KlauselKirchen 

Kirchen

 

Unsere Kirche in Vegesack enthält weder Löwenmotive noch eine barocke Prachtausstattung, sie kann auch nicht auf eine mittelalterliche Herkunft zurückblicken. Man hat in Vegesack über Jahrhunderte keine Kirche gebraucht, da der Ort gerichtsmäßig und fiskalisch entweder zum Amt Blumenthal oder Lesum gehörte. Da mussten die Gläubigen sonntags einige Meilen laufen. Erst nachdem Georg Gröning den Engländern den Ort abgeschnackt hat und der Magistrat der Stadt Bremen eine eigene Vegesacker Gemeinde zulässt, stellt sich die Frage einer Kirchengründung. Zur Dreihundertjahrfeier der Reformation am 31. Oktober 1817 vereinigen sich die lutherische und die reformierte Gemeinde zu einer Gemeinde. Ein Gott, ein Christus, eine Gemeinde wird über dem Portal der Kirche stehen. Auf der Stiftungsurkunde steht als erster Name der des Amtmanns August Christian Wilmanns. Als zweiter unterschreibt der berühmteste Vegesacker, Dr Albrecht Wilhelm Roth. Dann folgen (ohne systematische Ordnung) 91 Namen mit Berufsangabe: See-Schiffer, Capitain, Lootse, Seemann, Hafenmeister. Ein Abbild der soziologischen Schichtung des Fleckens. 

Man macht sich das heute nicht mehr klar, dass diese Vereinigung ein revolutionärer Akt ist. Lutheraner haben im puritanischen Bremen keinerlei Ansehen. Für den calvinistischen Bürgermeister ➱Johann Smidt kommen sie gleich nach den Juden. Nicht dass Smidt an dem vorherrschenden Kalvinismus Schuld ist. Den bringen die Holländer ins Land, seit Heinrich von Zütphen 1522 in der Ansgari Kirche gepredigt und die Reformation nach Bremen gebracht hat. Jahrzehnte später stürzt der Prediger Albert Rizäus Hardenberg (aus der holländischen Provinz Overijssel) die Stadt in ihre größte politische Krise, Bremen wird sogar aus der Hanse ausgeschlossen. Der Bürgermeister Daniel von Büren (der bei Luther und Melanchton studiert hat) holt Christoph Pezel aus Nassau-Dillenburg nach Bremen.

Pezel, der Prediger an der Ansgari Kirche (Bild) wird und sich Pezelius nennt, sollte im Glaubenskampf zwischen Lutheranern und Kalvinisten vermitteln. Das Ergebnis ist, dass Bremen von nun an reformiert sein wird und Pezelius einen beispiellosen Bildersturm organisieren wird. Daran zu denken, tut einem Lutheraner und Kunsthistoriker immer weh. Der ehemalige Direktor des Focke Museums und Bremer Landesdenkmalpfleger Werner Kloos führt das Kunstbanausentum der Bremer auf den Bildersturm von Pezel zurück: Die Verarmung des bremischen Kunstbesitzes rührt aus jener Zeit, jedoch auch eine gewisse allgemeine Gleichgültigkeit gegenüber den Werten künstlerischer Aussage

Der Kirchenbau in Vegesack wird öffentlich ausgeschrieben, sieben Zimmermeister werden Entwürfe einreichen. Finanziert wird die Kirche aus Spenden und Anteilscheinen. Ein evangelischer Pastor aus Archangelsk sendet 1.000 Rubel. 1821 ist die Kirche fertig, aber man wird sehr schnell feststellen, dass die Kirche zu klein ist. Schon für den ersten Gottesdienst am 5. August 1821 musste man Eintrittskarten ausgeben. 1828 können von 514 Familien nur 197 einen Kirchenplatz mieten. Für den Erweiterungsbau gewinnt man den renommierten Bremer Architekten Jacob Ephraim Polzin, dessen Entwürfe man 1818 nicht berücksichtigt hatte.

Polzin wird der Kirche ihr heutiges Gesicht geben, den klaren Stil seines Kopenhagener Lehrmeisters Christian Frederik Hansen. Der die Palmaille und die Marienkirche in Quickborn (Bild) gebaut hat. Der Innenraum unserer Kirche ist sehr ähnlich. Es gibt nicht so viele rein klassizistische Kirchen in Norddeutschland. Das begrüßenswerteste bei der Kirche ist, dass sie nicht durch Modernisierungen verschlimmbessert worden ist.

Die Wände sind kahl und weiß, einen Bildersturm brauchen wir nicht, wir haben von Anfang an keine Bilder (ich lasse die Kopien von Monumentalgemälden von Rubens und Raffael im Raum hinter der Kanzel mal unerwähnt, man sieht die auch kaum). Die Kanzel aus Mahagoni und die liturgischen Farben auf dem Altar sind der einzige Schmuck. Dies ist der Gegenentwurf für Vierzehnheiligen.

Das Mahagoni für die Kanzel wurde von zwei Kapitänen gestiftet. Die haben das Holz wahrscheinlich aus der Südsee mitgebracht. Die Kapitäne wetteifern in dieser Zeit auch darüber, wer die schönste Haustür aus tropischem Edelholz hat, die Kapitänshäuser in der Weserstraße sind Zeugen davon.  Dieses Bild hier hat Polzin sicher mit einem gewissen architektonischen Vergnügen gemalt, es ist das Bremer Zeughaus. War aber auch mal eine Kirche. Wenn Sie der Meinung sind, dass Kanonen nicht in das Katharinenkloster gehören, stimme ich Ihnen zu. Heute ist da ein Parkhaus und der ➱Herrenausstatter Stiesing. Ist das besser?

In Bremen gibt es noch eine klassizistische Kirche, die Horner Kirche Zum Heiligen Kreuz, zur gleichen Zeit gebaut, die aber architektonisch nicht so ausgewogen ist wie unsere. Dann ist da noch St. Ludwig in Celle oder St. Peter in Krempe. Und natürlich der großartige Innenraum von St. Lamberti in Oldenburg, der aussieht, als hätte sich Sir John Soane hier auf Geheiß des Großherzogs Ludwigs ausgetobt. Doch es war nicht Soane, es war ein Baumeister namens Joseph Bernhard Winck, der auch das Schloss Rastede umgebaut hat.

Der Denkmalpfleger Rudolf Stein, dem die Bremer alles über die Baugeschichte Bremer Häuser verdanken, sieht in seinem Buch Klassizismus und Romantik in der Baukunst Bremens eine Nähe der Vegesacker Kirche zur Potsdamer Garnisonskirche und den Kirchenbauten von Langhans. Mir sind solche Vergleiche etwas zu groß, die Garnisonskirche (das Bild sieht aus, als wäre es Eduard Gaertner, ist aber von seinem Kollegen Carl Hasenpflug) habe ich nur in Büchern gesehen. Aber was es an Bildern vom Innenraum gibt, zeigt doch, dass dies viel pompöser ist als unsere schlichte Kirche.

Mir scheint eher, dass Polzins Kirche mit der schlichten Funktionalität etwas von den Idealen Palladios wahrmacht. Sie hat eine große Ähnlichkeit mit einer Kirche, die auch im Jahre 1832 geweiht wurde, der Walfängerkirche Seamen’s Bethel in New Bedford (Bild). Herman Melville hätte an der Vegesacker Kirche seine Freude gehabt. Seit 1908 braucht man kein Kirchengestühl mehr zu mieten, dennoch sitzen in den fünfziger Jahren die Gemeindemitglieder immer an der gleichen Stelle, an der wahrscheinlich schon ihre Eltern und Ureltern gesessen haben. Natürlich gibt es auch weiterhin Plätze für den Kirchenvorstand. Platz findet man in Kirchen heute immer, nach dem Krieg sind die Kirchen noch voll, heute nicht mehr. 

Once I am sure there's nothing going on
I step inside, letting the door thud shut.
Another church: matting, seats, and stone,
And little books; sprawlings of flowers, cut
For Sunday, brownish now; some brass and stuff
Up at the holy end; the small neat organ;
And a tense, musty, unignorable silence,
Brewed God knows how long. Hatless, I take off
My cycle-clips in awkward reverence.

Move forward, run my hand around the font.
From where I stand, the roof looks almost new -
Cleaned, or restored? Someone would know: I don't.
Mounting the lectern, I peruse a few
Hectoring large-scale verses, and pronounce
'Here endeth' much more loudly than I'd meant.
The echoes snigger briefly. Back at the door
I sign the book, donate an Irish sixpence,
Reflect the place was not worth stopping for.

Yet stop I did: in fact I often do,
And always end much at a loss like this,
Wondering what to look for; wondering, too,
When churches will fall completely out of use
What we shall turn them into, if we shall keep
A few cathedrals chronically on show,
Their parchment, plate and pyx in locked cases,
And let the rest rent-free to rain and sheep.
Shall we avoid them as unlucky places?

Or, after dark, will dubious women come
To make their children touch a particular stone;
Pick simples for a cancer; or on some
Advised night see walking a dead one?
Power of some sort will go on
In games, in riddles, seemingly at random;
But superstition, like belief, must die,
And what remains when disbelief has gone?
Grass, weedy pavement, brambles, buttress, sky,

A shape less recognisable each week,
A purpose more obscure. I wonder who
Will be the last, the very last, to seek
This place for what it was; one of the crew
That tap and jot and know what rood-lofts were?
Some ruin-bibber, randy for antique,
Or Christmas-addict, counting on a whiff
Of gown-and-bands and organ-pipes and myrrh?
Or will he be my representative,

Bored, uninformed, knowing the ghostly silt
Dispersed, yet tending to this cross of ground
Through suburb scrub because it held unspilt
So long and equably what since is found
Only in separation - marriage, and birth,
And death, and thoughts of these - for which was built
This special shell? For, though I've no idea
What this accoutred frowsty barn is worth,
It pleases me to stand in silence here;

A serious house on serious earth it is,
In whose blent air all our compulsions meet,
Are recognized, and robed as destinies.
And that much never can be obsolete,
Since someone will forever be surprising
A hunger in himself to be more serious,
And gravitating with it to this ground,
Which, he once heard, was proper to grow wise in,
If only that so many dead lie round. 

Philip Larkin macht sich in seinem Gedicht Church Going Gedanken, was eines Tages aus den leeren Kirchen werden soll. Vor diesem 1954 geschriebenen Gedicht hat sich noch kein Dichter so recht darüber Gedanken gemacht. Das Land, wo die Kirchen schön und die Häuser verfallen sind, ist so gut verloren als das, wo die Kirchen verfallen und die Häuser Schlösser werden. Aber man sieht es kommen, eines Tages werden Kirchen nur noch einen historischen Status haben, ihren Platz im  Gemeindeleben werden sie verlieren, weil es kein Gemeindeleben mehr gibt. Es sei denn, man macht Hundegottesdienste oder Bingo in der Kirche. Das mit den Hundegottesdiensten ist kein Witz, das hat der Vegesacker Pastor (der lieber an Bord von Kreuzfahrtschiffen als in seiner Gemeinde ist) hingekriegt, glücklicherweise nicht in der Kirche sondern im StadtgartenSweet sixteen goes to church, just to see the boys hat Lonnie Donegan 1957 gesungen (war wochenlang in den Charts). Und Sänger hunderte von Jahren davor haben von Little Musgrave gesungen, der die schöne Frau von Lord Arlen in der Kirche trifft.

Und natürlich gehört das zu Kirchen vor einem halben Jahrhundert auch dazu. Nachdem man sich lange Jahre als Kind in der Kirche gelangweilt hat und nun in ein Alter kommt, in dem einen junge Frauen interessieren, wird die Kirche auch wieder interessanter. Wenn schöne junge Frauen in der Kirche sind, putting on the style, wie es bei Lonnie heißt. Wäre schön, wenn der Pastor jetzt noch die sexy Stellen vom Hohelied Salomonis vortragen würde, aber das scheint irgendwie für den Kirchengebrauch zensiert zu sein. Der Baumeister Polzin macht es einem leicht, schöne junge Frauen in der Kirche zu beobachten, das Kirchengestühl ist, obwohl verwinkelt, so angelegt, dass sich die Gemeinde sehen kann. Hier sitzen nicht alle in einem Langschiff und blicken in eine Richtung, dies ist eine Hallenkirche, die durch die Sitzordnung das Gemeinschaftsgefühl der Gemeinde betont (das Internet hat leider keine Bilder, aber in den im oberen Absatz abgebildeten Büchern von Rudolf Stein sind natürlich Abbildungen). Dies hier ist St Marien in Husum (ähnelt auch der Marienkirche von Quickborn) von Polzins Lehrmeister Christian Frederik Hansen, unsere Kirche sieht innen sehr ähnlich aus.

Die Nachbargemeinden von Vegesack haben meistens neugotische Kirchen aus dem 19. Jahrhundert, die aber recht eindrucksvoll ausfallen können, wie die Aumunder Kirche oder die Blumenthaler Kirche (wobei sie, so eindrucksvoll sie sein mögen, nicht an die Hemelinger Kirche herankommen). Und natürlich nicht an all das in London, was John Ruskin und Sir John Betjeman so toll fanden. Oder man geht historisierend noch weiter in der Baugeschichte zurück, wie der um die Jahrhundertwende bekannte Architekt Karl Mohrmann, der in Grohn 1908 eine kompakte neuromanische Kirche baut, eine richtige kleine Trutzburg. Genau für Pastor Hemmelgarn mit seiner Donnerstimme geeignet.

Mohrmann entwirft um die Jahrhundertwende auch die Blumenthaler Martin Luther Kirche in der Wigmodistraße, zu der meine Oma immer gegangen ist. Wohin wir am Sonntag gehen, hängt ein wenig von der Laune meiner Mutter ab. Bei dem guten alten Pastor Heinrich Keller, der mit Opa befreundet war, hätte sie nicht die Kirchen von Sonntag zu Sonntag gewechselt, aber mit seinen Nachfolgern kommt sie nicht so zurecht. Weil sie im Herzen, genau wie die ganze querulatorische Sippschaft aus Westfalen, eine echte Lutheranerin ist. Deshalb hat sie auch in der Aumunder Kirche (einem neugotischen Scheusal, hier das Langschiff) und nicht in Vegesack geheiratet. An das Ein Gott, ein Christus, eine Gemeinde hat sie bestimmt nie geglaubt.

Wir können daran sehen, dass die Glaubenskämpfe in Bremen mit Pezelius nicht zu Ende sind (Georg Weidemann will ich jetzt lieber nicht erwähnen). Und so sind wir häufiger in Grohn, weil Pastor Hemmelgarn so eindrucksvoll predigt. Manchmal auch in dem neugotischen Monster in Aumund. Und einmal Weihnachten bei Manfred Hausmann in der Rönnebecker Kirche (Bild), das gilt in Bremen als chic. Ich persönlich finde das alles ein bisschen albern. Seit dem Mittelalter stehen die Botschaften künstlerisch verschlüsselt, aber doch klar zu erkennen, über der Eingangstür des Gotteshauses. Bei uns braucht man sich nicht einmal in christlicher Ikonographie und Symbolik auszukennen. Ein Gott, ein Christus, eine Gemeinde - reicht dieses Bekenntnis über der Tür nicht aus? Ich mag unsere Kirche, mir gefällt unsere klassizistische Kargheit und die ausgewogenen Proportionen von Polzins Bau. Nicht nur, weil man da so schön schöne Frauen beobachten kann. 

Die einzige Kirche im Bremer Norden, die kunsthistorisch mit uns konkurrieren kann und die auch wirklich schön ist, ist die Lesumer Kirche. Die auch eine Vegesacker Kirche ist, denn jahrhundertelang müssen die Lutheraner aus Vegesack hierhin zum Gottesdienst wandern und auch noch finanziell für den Erhalt der Kirche aufkommen. Die Reformierten gehen nach Blumenthal, aber die haben nicht solch schöne Kirche wie St. Martini. Für die heutige neugotische Kirche (das hier ist sie) hatte der Reeder Christian Heinrich Wätjen 1879 die Summe von 200.000 Reichstaler springen lassen. Im Gegenzug hatte er dafür auch Kirchenland bekommen, um seinen ➱Park zu vergrößern, in dem er sich ein Schloss nach englischem Vorbild im Tudor Stil bauen lässt (zu den Schlossbauten Bremer Millionäre könnten Sie auch noch die Posts ➱Horace Walpole und ➱Knoops Park lesen).

Die Lesumer Kirche hat natürlich auch die pittoreske Lage für sich, auf der Geestkante auf einem kleinen Berg, so dass man sie von Lesumbrook aus schon von weitem sehen kann. Von der Lesum aus natürlich auch. Sie könnten jetzt noch den Post Sommer in Lesmona lesen. Und sie ist in der Basis alt, noch aus fränkischer Zeit. Da nennt man Kirchen gern St. Martini, weil der Bischof Martin von Tours der Nationalheilige der Frankenkaiser ist. Ich habe einmal im Düsternbrooker Gehölz in Kiel an einem schneegrieseligen Tag in der Abenddämmerung einen Reiter mit einem blauen Mantel gesehen, der den Berg heraufritt. 

Das war ein seltsames Erlebnis, bis mir einfiel, dass es Martinstag war und der wahrscheinlich zu einem religiösen Spiel unterwegs war, um dort seinen Mantel zu zerschneiden. Der Turm von St. Martini ist noch aus der Zeit der Frankenkaiser, das Kirchenschiff ist jünger. Weil die Kirche im Schwedenkrieg stark in Mitleidenschaft gezogen wurde (die Burger Schanze liegt gegenüber).

Man hat aber die alten Steine genommen, um im 18. Jahrhundert eine spätbarocke Saalkirche zu bauen, davon gibt es in Bremen nicht mehr so viele. Rablinghausen, Use Kark an’ Diek, ist nach dem Krieg restauriert und wiederaufgebaut worden, eine kleine historische Kostbarkeit. Aber auch innen ist die Lesumer St. Martini Kirche gefällig, kein Vergleich mit dem armen Vetter, der Martinskirche in Zetel. Obgleich die in ihrer Schlichtheit auch sehr schön ist. Ich habe darin mal schöne Photos von einer schönen Frau gemacht.

Der Vegesacker Friedhof liegt nicht mehr in Vegesack. Nachdem die Gräberstätte in der Kirchheide um die Kirche herum 1873 zu klein geworden war, wurde in der Lindenstraße in Lobbendorf 1876 ein neuer Friedhof angelegt. Das Tor zur Lindenstraße ist noch im Originalzustand. Es gibt ein Grabmal für den Afrikaforscher Gerhard Rohlfs und ein Ehrengrab für den ehemaligen Bürgermeister, Dr. Werner Wittgenstein, den die Nazis aus dem Amt gejagt haben.

Es gibt repräsentative Gräber für Werftbesitzer wie die Familie von Johann Lange mit ihrem Marmorengel. Andere Honorationen ziehen unscheinbarere Gräber vor. Der Bremer Familienforschunsgesellschaft MAUS (die seit 1924 existiert), hat Listen aller Gräber im Internet, und es gibt auch eine Internetseite für den Vegesacker Friedhof. Es gibt auch Tendenzen, ihn zu einer Attraktion innerhalb einer touristischen maritimen Meile zu machen. Ich finde solchen Friedhofstourismus ein wenig morbide und kann der Idee, Friedhöfe zu touristischen Zielen zu machen, nicht so viel abgewinnen (ich weiß, dass der Lokalhistoriker Thomas Begerow, der viel für den Erhalt historischer Gräber getan hat, das jetzt nicht so gerne hört). Ich bin auch nie auf dem Père Lachaise gewesen. Und die pastorale Stimmung, die Thomas Grays Elegy, written on a country churchyard auszeichnet, konnte hier nie aufkommen, keine Abendglocken, keine nach Hause ziehenden Herden und Eulen im Mondenschein. Hier klang Tag und Nacht der Eisenhammer vom Fluss herüber. Der einzig poetische Augenblick waren die Sonnenuntergänge, wenn sich die rote Abendsonne in dem Spinnennetz von Helgen und Kränen verfing. Heute ist es ruhig auf der anderen Straßenseite von Lobbendorf. Die Werft des Bremer Vulkans ist selbst zu einem großen Friedhof geworden.

Ich bin ja schon glücklich, dass sich die Gemeinde endlich besonnen hat, die riesigen Müllbehälter von der Rückseite unseres Familiengrabes zu entfernen. Dafür musste ich im Gegenzug unsere Birke opfern, die nach einem halben Jahrhundert zu groß geworden war. Meine Mutter hat das leider nicht mehr erleben können, dass die Müllbehälter verschwunden sind. Die haben ihr die letzten Lebensjahre vergällt. Zu einer vernünftigen Diskussion war die Gemeinde nicht bereit. Man hätte sie verklagen sollen, aber vor einem solchen Schritt schreckt man dann doch zurück. Man glaubt immer, nur weil dies ein Friedhof ist, der mit Kirche und Gott zu tun hat, seien hier Einsicht, Weisheit und Vernunft zu finden. Aber das sind kleine Verwaltungsspießer, wie sie überall sitzen, eine krude Mischung aus wilhelminischem Untertanengeist und kleinbürgerlichem Größenwahn, wie sie uns Deutsche leider ein Jahrhundert lang auszeichnet.

Opa hat das Grab kurz nach dem Krieg gekauft, er musste natürlich eins ganz vorn bei der Kapelle nehmen, als ob man mit dieser Lage schneller in den Himmel kommt. Die Kapelle ist 1930 von dem Vegesacker Architekten Ernst Becker-Sassenhof gebaut worden. Diese unterkühlte Schönheit der Bauhausideale kann man heute aber nur noch auf alten Architekturphotos erkennen, da die Kapelle 1958 erweitert und umgebaut wurde. Das hätten sie mal lieber lassen sollen und stattdessen etwas mehr Geld in das orgelähnliche Instrument stecken sollen. Oder in den, der das spielt. Das letzte Mal, als ich da zu einer Beerdigung war, klang die Aria von Bachs Goldberg Variationen so, dass Johann Sebastian sie nicht wiedererkannt hätte. Ich hätte den Organisten nicht im voraus bezahlen sollen.

die kleinen Dinge

Ich besitze seit Jahrzehnten eine kleine schwarze Holzschale, die ein wenig so aussieht wie diese Schale von dem Designer  Simon Legald . Es...